Heute wäre Willy Brandt 100 Jahre alt geworden. Grund genug für einen Nordeuropablog mal einen Blick auf seine Zeit im norwegischen und schwedischen Exil zu werfen. Was hat Brandt im Norden gemacht? Wie hat ihn die Zeit geprägt, welche Auswirkungen hatte sie auf sein späteres Leben?
Flucht in ein fremdes Land
“In der Nacht zum 1. April 1933 schipperte ein kleiner Kutter aus dem Hafen von Travemünde in Richtung Dänemark. Am Steuer stand der Fischer Paul Stoss, in einer Ecke des Kahns, hinter Kisten und Fässern versteckt kauerte ein junger Mann im Trenchcoat: Willy Brandt.” 1
Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten 1933 taucht der damals 19-jährige Herbert Frahm in den Untergrund ab. Er nimmt den Decknamen Willy Brandt an, den er bis an sein Lebensende behalten soll. Im April flieht er von seinem Geburtsort Lübeck aus über Dänemark nach Norwegen. Dies tut er zum einen, um seiner drohenden Verhaftung in Deutschland zu entgehen, zum anderen um die Arbeit seiner Partei, der Sozialistische Arbeiterpartei Deutschlands (SAP), im Untergrund weiterzuführen. In Oslo angekommen beginnt er sofort, sich politisch zu betätigen, wobei ihm Mitglieder der DNA (Det norske Arbeiderparti) helfen, so erhält er eine wöchentliche finanzielle Unterstützung und ein Zimmer. Dem jungen Willy Brandt fällt es offensichtlich nicht schwer sich in Norwegen zu Hause zu fühlen, er will kein Außenseiter bleiben, knüpft schnell neue Kontakte und sieht nach vorn. Brandt arbeitet bereits kurz nach seiner Ankunft fast rund um die Uhr: So ist er im Pressebüro der DNA und in deren Flüchtlingsbetreuung tätig, er schreibt Artikel für mehrere Zeitungen, stellt einen gewerkschaftlichen Pressedienst zusammen, hält Vorträge und wirkt als Referent an Bildungskursen der Gewerkschaften mit. Zudem gibt er Deutschunterricht, dolmetscht und “schreibt und schreibt und schreibt”, wie sein Biograf Peter Merseburger es ausdrückt. Insgesamt erscheinen in seiner Zeit im norwegischen Exil 118 Zeitschriftenaufsätze und 99 Zeitungsartikel. Dabei informiert er in seinen Texten die Norweger über die NS-Diktatur.
Dank seiner Kenntnisse des Plattdeutschen sowie seiner Sprachbegabung, lernt Brandt sehr schnell Norwegisch. Bereits nach wenigen Monaten verfasst er seine Artikel auf Norwegisch und hält auch Reden in der neuen Sprache.
Für seine Parteiarbeit schreibt er mit unsichtbarer chemischer Tinte konspirative Mitteilungen, auch nach Deutschland, lässt von DNA-Mitgliedern illegale Zeitschriften ins Deutsche Reich schmuggeln, lernt gefälschte Reisepapiere herzustellen und versucht auch deutsche Seeleute in norwegischen Häfen zu infiltrieren. Mehrmals wird er fast abgeschoben, denn das Norwegen in das er 1933 auswanderte, empfängt Flüchtlinge nicht mit offenen Armen. Die Wirtschaftskrise ist auch hier angekommen, allein in der holzverarbeitenden Industrie liegt die Arbeitslosigkeit bei 55 Prozent. Erst 1935 übernimmt die DNA die Regierung und liberalisiert die Flüchtlingspolitik.
Um einer Ausweisung zu entgehen, immatrikuliert sich Brandt 1934 an der Universität Oslo für das Fach Geschichte, das ihn sein ganzes Leben besonders interessiert. Er besteht die für alle Studenten obligatorische vorbereitende Philosophieprüfung mit gut. Sein politisches Engagement lässt ein strukturiertes Studium jedoch nicht zu und so widmet er sich schon bald wieder ausschließlich der Politik, die ihn zunehmend auch in andere westeuropäische Länder und Städte führt, vor allem nach Paris, wo die SAP ihren Hauptsitz eingerichtet hatte, aber auch nach Stockholm, Kopenhagen, Amsterdam, Brüssel und Prag.
1935 beginnt Brandt, sich für die Nobelpreiskandidatur des inhaftierten deutschen Journalisten Carl von Ossietzky einzusetzen und es gelingt ihm, entscheidende Personen im Nobelkomitee für Ossietzky zu gewinnen, der den Friedensnobelpreis 1936 zugesprochen bekommt.
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Im Untergrund in Berlin und Spanien
Die letzten Monate des Jahres 1936 verbringt Brandt in Berlin, im Untergrund. Dorthin wird er von der Parteizentrale der SAP geschickt, um die verbliebenen 200 SAP Mitglieder (und 200 Sympathisanten) politisch zu betreuen und über die in der Emigration geführten Diskussionen zu unterrichten, sowie sie auf eine kommende Parteikonferenz vorzubereiten. Die Mission ist lebensgefährlich, aber Brandt übersteht den Aufenthalt mit einem gefälschten norwegischen Pass, den ihm der befreundete Student Gunnar Gaasland zur Verfügung stellt, er spricht Deutsch mit norwegischem Akzent und geht regelmäßig in die Staatsbibliothek. Illegale Treffs legt er auf sonntägliche Spaziergänge im Freien, sodass sie nicht abgehört werden können.
Ein Jahr später, 1937, wird Brandt nach Barcelona geschickt. Offiziell als Pressekorrespondent, tatsächlich aber als Verbindungsmann der SAP und Leiter der deutschen Sektion der spanischen Partei der marxistischen Einheit. Hier erlebt er nicht nur die Schrecken des (Bürger-)Krieges, sondern auch die massive Einmischung der Sowjetunion und deren stalinistischen Terror.
Die SAP löst sich nach Kriegsausbruch 1939 zunehmend auf, denn es ist für die emigrierten Mitglieder nicht mehr möglich, politisch zu arbeiten und schon gar nicht, die Verbindung nach Deutschland zu halten. Damit endet in diesen Jahren die Arbeit der Exilpartei.
Flucht nach Schweden
Im April 1940 überfällt die Wehrmacht Norwegen. Brandt, 1938 von den deutschen Behörden ausgebürgert, flieht als Staatenloser, gibt sich als norwegischer Soldat aus und gerät kurzzeitig in deutsche Gefangenschaft. Er wird unerkannt entlassen und flieht weiter nach Schweden, wo er wenig später von der norwegischen Exilregierung die norwegische Staatsbürgerschaft erhält. Neben London ist Stockholm das wichtigste Zentrum des norwegischen Exils. Brandt ist auch hier bald gut vernetzt, so wird er zum Mittelpunkt eines Kreises von Sozialisten aus 14 Ländern sowie der Sozialdemokratischen Exilgruppe in Stockholm und pflegt Kontakte zu Botschaften der Alliierten, zu Geheimdiensten und zu deutschen Widerstandskreisen. Er arbeitet als Journalist für ein “freies Norwegen und für ein demokratisches Deutschland” 2, wie er sagt. Brandt wird zum produktivsten Autor im schwedischen Exil, seine Texte haben eine hohe Wirkkraft in Schweden, Norwegen und anderen europäischen Ländern.
In seinen Anfangsjahren in Oslo hatte sich Brandt im Jugendverband und der Arbeiterbewegung vor allem am linken Rand betätigt und auch die norwegische Arbeiterpartei stark kritisiert. 1936 wendet er sich ihr wieder zu, auch gelangt er, unter anderem durch den Einmarsch der Sowjets in Finnland im Winterkrieg (1939–1940), zu der Einsicht, dass in der Sowjetunion Terror, Unterdrückung und Tyrannei herrschen und dort keineswegs der Sozialismus verwirklicht wird. In Stockholm vertieft er seine Gedanken zum demokratischen Sozialismus, außerdem setzt er sich intensiv mit der Zukunft Europas und der Verknüpfung der deutschen Frage mit einer europäischen Lösung auseinander.
Zweimal wird Brandt verhaftet, kommt aber jeweils nach kurzer Zeit wieder frei, weil sich sein norwegischer Freund Martin Tranmæl für ihn einsetzt. Tranmæl übt über mehrere Jahrzehnte entscheidenden Einfluss auf die norwegische Politik aus und so kann auch Brandt, als dessen Vertrauter, die norwegischen Nachkriegspläne mitprägen.
Seit 1942 entwickelt sich im Stockholmer Exil die “Kleine Internationale”, ein Studienzirkel von Sozialisten aus alliierten (außer der Sowjetunion), deutschbesetzten und neutralen Ländern. Dieser Gruppe gehören viele spätere Spitzenpolitiker an, so wiederum Martin Tranmæl, dann der spätere österreichische Bundeskanzler Bruno Kreisky, das Ehepar Alva und Gunnar Myrdal, Torsten Nilsson, Gösta Rehn, der spätere dänische Finanzminister Henry Grünbaum, Parlamentarier, Diplomaten und Staatssekretäre, Minister der polnischen und estnischen Exilregierungen, Zionisten und amerikanische Gewerkschafter mit Verbindungen zum Geheimdienst OSS. Brandt ist der Mittelpunkt dieser “Kleinen Internationalen” und auch hier geht es um die Neugestaltung Europas nach dem Krieg.
Außerdem versucht Brandt bei alliierten Botschaften die Verschwörer des 20. Juli zu unterstützen und sucht den Kontakt zum ehemaligen SPD-Reichstagsabgeordneten und Widerstandskämpfer Julius Leber. 1944 sagt sich Brandt endgültig von der SAP los, bei der er kaum noch befriedigende Antworten findet und tritt der SPD-Exilgruppe in Stockholm bei. Zusammen mit politischen Freunden veröffentlicht er zuvor den Text Zur Nachkriegspolitik deutscher Sozialisten. Darin skizzieren sie, “mit großer Klarsicht”, wie die Geschichtsprofessorin Helga Grebig schreibt, die Aufteilung Deutschlands in Besatzungszonen nach Ende des Krieges, fordern aber das Recht des deutschen Volkes auf Selbstbestimmung, durch Parteien und Wahlen, wobei sie Einparteiensysteme wie in der Sowjetunion ablehnen. Eine weitere Forderung betrifft die Inhaftierung nationalsozialistischer Verbrecher.
Zwei Vaterländer
Nachdem die Wehrmacht am 9. Mai 1945 auch in Norwegen kapitulierte, kehrt Brandt nach Oslo zurück. An seiner Seite ist nun die norwegische Widerstandskämpferin Rut Bergaust, die er im Stockholmer Exil kennengelernt hat, für sie trennt er sich von seiner Frau Carlota.
Nach seiner Rückkehr weiß er zunächst nicht, wo seine Zukunft liegt — in Norwegen oder in Deutschland. Das erste Mal seit 1936 betritt er wieder deutschen Boden, als er 1945 als Journalist für das norwegische Arbeiderbladet die Nürnberger Prozesse verfolgt. Seine Eindrücke von den Prozessen vermittelt er in Briefen, Vorträgen, Zeitschriftenartikeln, Broschüren und dem Buch Verbrecher und andere Deutsche (Forbrytere og andre tyskere). Es wird 1946 auf Schwedisch und Norwegisch veröffentlicht, später im Wahlkampf 1965 wird das Buch von seinen politischen Gegnern gegen ihn verwendet. Es richtet sich vor allem an das norwegische Publikum, denn in weiten Teilen der norwegischen Bevölkerung herrscht damals verständlicherweise eine deutschfeindliche Stimmung. Brandt will mit seinem Buch eine differenziertere Sicht auf die deutsche Bevölkerung vermitteln und die Frage nach Schuld und Verantwortung diskutieren. So unterstreicht er die Mitverantwortung des deutschen Volkes, lehnt jedoch eine Kollektivschuld ab.
Ende 1946 fällt dann die Entscheidung über Brandts Zukunft. Er nimmt das Angebot an, als zivilmilitärischer Major in der Norwegischen Militärmission in Berlin zu arbeiten und zieht nun dauerhaft nach Deutschland. 1948 erhält Brandt dann auch die deutsche Staatsbürgerschaft zurück. Schon während des Krieges hatte er den Wunsch gehabt, aktiv am deutschen Wiederaufbau mitzuwirken — dazu bekam er nun die Gelegenheit.
Bedeutung der Zeit im Exil für sein späteres Wirken
“Die nordischen Jahre waren in mancher Hinsicht die prägendsten Jahre meines Lebens. Ich begann zu verstehen, was nicht nur Rechtstaatlichkeit und Freiheitlichkeit, sondern auch Liberalität und mitbürgerliche Solidarität bedeuten konnten.” Willy Brandt 3
Das schreibt Willy Brandt selber in seinem Buch Links und Frei über seine Jahre im Exil. Brandts Biograf Einhart Lorenz betont die “interkulturellen Identität”, die Brandt in seinen Exiljahren erworben hat. So habe dieser mit Norwegen nicht nur ein zweites Vaterland hinzubekommen, sondern auch gelernt, dass “der Wert eines Landes nicht von der Zahl seiner Einwohner abhängt.” 4 Zudem lernte er Deutschland von außen zu sehen und in einen größeren Kontext einzuordnen, knüpfte Kontakte zu Politikern, die das Europa nach Kriegsende mitprägten und fand Freunde. Auch die Begegnung mit einer anderen, kompromissbereiteren Staats- und Regierungsform, sowie einer selbstbewussten Arbeiterbewegung als Volksbewegung prägten ihn nachhaltig. Hier erfuhr er, dass es auch in Gesellschaften mit Klassenunterschieden möglich ist, eine Politik des Ausgleichs zu führen, die ein Auseinanderfallen der Gesellschaft verhindert. Seine im Exil vertieften Vorstellungen vom demokratischen Sozialismus wurden zur Grundlage seiner späteren Friedenspolitik. Und in der heterogenen Gruppe der “Kleinen Internationalen” erwarb er die Fähigkeiten zu moderieren, nach Konsens zu suchen und die Annährung verschiedener Standpunkte zu fördern. Dies ist ihm als späterer Bürgermeister, Parteivorsitzender und Kanzler von großem Nutzen. Doch er findet noch mehr in Norwegen:
“Norwegen, wohin ich 1933 flüchten musste, war mir mehr als ein Asyl. Es wurde meine zweite Heimat.” Willy Brandt 5
Quellen
- Dollinger, Hans: Willy Willy! Der Weg des Menschen und Politikers Willy Brandt. München 1970.
- Lorenz, Einhart: Willy Brandt Deutscher – Europäer – Weltbürger. Stuttgart 2012.
- Merseburger, Peter: Willy Brandt 1913–1992 Visionär und Realist. Stuttgart, München 2002.
- Brandt, Willy: Links und Frei mein Weg 1930–1950. Hamburg 1982.
- Zeit Geschichte: Willy Brandt Visionär, Weltbürger, Kanzler der Einheit. Nr.4 2013.
Weiterführende Informationen
- Hofman, Gunter: Der andere Deutsche. Zeit 26.11.2013.
- Die Geschichte von Willy Brandt und Herbert Frahm. NDR-Dokumentation vom 16.12.2013.
- “Das Vaterland ist, wo die Freiheit ist!”. NDR-Audiobeitrag vom 24.11.2013.
- Heilemann, Uwe: Norge med Willy: Durch Norwegen auf den Spuren von Willy Brandt. 2013.
- Lorenz, Einhart: Willy Brandt in Norwegen: Die Jahre des Exils 1933 bis 1940. 1989.
- Brandt, Willy; Helga Grebing, Gregor Schöllgen und Heinrich August Winkler: Berliner Ausgabe, 10 Bde., Bd.1, Hitler ist nicht Deutschland. Bonn 2002.
- Bundeskanzler Willy Brandt Stiftung
Notes:
- Dollinger, Hans: Willy Willy! Der Weg des Menschen und Politikers Willy Brandt. München 1970 S.23 ↩
- Willy Brandt in: Lorenz, Einhart: Willy Brandt Deutscher — Europäer — Weltbürger. Stuttgart 2012, S.62. ↩
- Brandt, Willy: Links und Frei mein Weg 1930–1950, S.83 ↩
- Einhart Lorenz: Willy Brandt Deutscher — Europäer — Weltbürger, S.88 ↩
- Dollinger, Hans: Willy Willy! Der Weg des Menschen und Politikers Willy Brandt. München 1970 S.24 ↩