Als ich vor über zehn Jahren das Buch “Lügenhaus” von Anne B. Rage zum Geburtstag geschenkt bekommen hatte, kam ich erstmals mit der grandiosen Autorin in Berührung. Ein Freund hatte sich im Buchladen beraten lassen, “ein Buch für eine Skandophile” sollte es sein. Die Buchhändlerin hatte dann genau ins Schwarze getroffen, denn sobald ich mit dem Buch begann, konnte ich es nicht mehr aus der Hand legen.
In “Lügenhaus” geht es um die Familie Neshov aus Trondheim. Bäuerin Anna liegt im Sterben und die Familie kommt erstmals nach Jahren wieder zusammen: Tor, der mit Mutter Anna den Schweinehof bestellt, Margido, der als Bestattungsunternehmer arbeitet und vor langer Zeit den Kontakt abgebrochen hat, der jüngste Sohn Erlend, der jetzt wohnhabend mit seinem Freund in Kopenhagen lebt, und auch Torunn, Tors erwachsene Tochter, die er erst einmal gesehen hat. Doch wie der Titel schon verspricht, ist das Leben der Familie auf Lügen gebaut, die nun — am Sterbebett der Mutter — zum Vorschein kommen.
Das erste Buch hatte mich so in seinen Bann gezogen, dass ich noch während des Lesens des ersten Bandes den zweiten kaufen musste, aus Angst einen Tag ohne es überstehen zu müssen. Die Neshovs sind mir von der ersten Seite an sehr ans Herz gewachsen, als gehörten sie zur Familie. Buch 2 “Einsiedlerkrebse” und drei “Hitzewelle” wurden ebenso verschlungen. Leider hinterließ “Hitzewelle” offene Fragen und ließ einen unbefriedigt und nachdenklich zurück.Umso erfreuter war ich, als dieses Jahr ganz unerwartet Band 4 “Sonntags in Tromsö” erschien! Ragde hatte zwar immer gesagt, die Reihe sei nach drei Bänden zu Ende, schickte dann jedoch unangekündigt das Manuskript an den Verlag. Und wieder hat mich das Familienleben der Neshovs komplett eingenommen: Die Familie ist im Land zerstreut und der Schweinehof dient nur noch als Sarglager. Erst als Torunn an einem Sonntagmorgen beschließt, Margido einen Besuch abzustatten, setzt sie damit ganz erstaunliche Entwicklungen in Gang.
Anne B. Ragde lebt selber in Trondheim und ist eine der erfolgreichsten Autorinnen Norwegens. Ihr Schreibstil ist so ausgefeilt, dass schon ein paar Sätze ausreichen, um ihre Charaktere kennen- und lieben zulernen. Wie schon die Vorgänger wird auch “Sonntags in Tromsö” aus drei unterschiedlichen Perspektiven erzählt, was die Geschichte vorantreibt und einen intensiven Einblick in das Leben der Rollen erlaubt. Ragde vermag es die Leidenschaften der drei Hauptpersonen so anschaulich zu beschreiben, dass man sich plötzlich auch für Dekoration, die norwegische Natur und — tatsächlich — für das Bestattungswesen zu begeistern beginnt. Was mich besonders an der Reihe fasziniert, ist Ragdes offener Blick auf unsere Gesellschaft und ihrer Fähigkeit, diese mit Leichtigkeit wiederzugeben.
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