Vom 2. bis zum 6. November wurden bei den Nordischen Filmtagen Lübeck zum 58. Mal die neuesten Spiel‑, Dokumentar- und Kurzfilme aus Dänemark, Estland, Finnland, Island, Lettland, Litauen, Norwegen und Schweden vorgestellt. Insgesamt 185 Filme hatte das diesjährige Programm zu bieten. Außerdem wurden in diesem Jahr auch erstmals TV-Serien gezeigt, eine sehr gute Ergänzung. Aus diesem umfangreichen Programm schaffte ich immerhin, 14 Beiträge zu sehen. Einige der Favoriten seien hier vorgestellt:
Rosemari
Der diesjährige Eröffnungsfilm aus Dänemark zeigte mit viel Gefühl zwischen Skurrilität und Ernsthaftigkeit wie die 16-jährige Rosemari versucht ihre Mutter zu finden, nachdem sie als Baby auf einer Hoteltoilette zurückgelassen wurde. Die junge Hauptdarstellerin Ruby Dagnall ist als ungelenke, jungenhafte Rosemari einfach umwerfend. Die große Leistung des Films ist vor allem die, dass er, obwohl die Handlung das hergeben könnte, nicht in eine seichte Feel-good-Komödie abgleitet. Ein sehr gelungener Auftakt der Filmtage!
When We Talk About KGB
In dem litauischen Dokumentarfilm erzählen Opfer des sowjetischen Geheimdienstes ihre Geschichte. Aber auch ehemalige KGB-Angehörige kommen zu Wort. Der Film bietet interessante und beklemmende Eindrücke in ein weitgehend unaufgearbeitetes Kapitel litauischer Geschichte.
Der fremde Himmel
Basia und Marek sind aus Polen nach Schweden gekommen, um sich dort mit ihrer neunjährigen Tochter ein neues Leben aufzubauen. Doch die Familie hat mit mehr als nur Sprachbarrieren zu kämpfen. Als Ula aufgrund eines Missverständnisses aus ihrer Familie genommen und einer Pflegefamilie überantwortet wird, beginnt der verzweifelte Kampf der Eltern um ihr Kind, der immer auswegloser scheint.
Die polnisch-schwedische Koproduktion zeigt wie ein eigentlich gut gemeintes System mit unerbittlicher Bürokratie in das Leben von Menschen eingreifen kann.
Der Tag wird kommen
Dänemark 1967. Als ihre alleinerziehende Mutter schwer erkrankt, werden die Brüder Elmer (Harald Kaiser Hermann) und Erik (Albert Rudbeck Lindhardt) von den Behörden im Jungenheim Gudbjerg untergebracht, wo die Abschaffung der Prügelstrafe noch nicht angekommen ist und der sadistische Direktor Heck (gespielt von Lars Mikkelsen) an Erziehungsmethoden längst vergangener Zeiten festhält. Die ihm anvertrauten Jungen werden mit Schlägen, Demütigungen und Medikamenten gefügig gemacht und gebrochen. Doch Elmer und Erik widersetzen sich – physisch und mit Phantasie – und setzen alles daran, dem Heim wieder zu entkommen.
Der dänische Film ist mit Harald Kaiser Hermann und einigen bekannten Gesichtern wie Lars Mikkelsen und Sofie Gråbøl toll besetzt. Er ist berührend und manchmal fast nicht auszuhalten. Er zeigt die Zustände der Heimunterbringung in den 60er-Jahren, wie sie in Dänemark erst 2011 umfassend aufgeklärt wurden.
Im Anschluss an den Film schilderte Regisseur Jesper W. Nielsen seine Motivation und die Hintergründe zum Film: Während er eine unbeschwerte Kindheit genießen konnte, waren anderen Jungen seelischen und körperlichen Grausamkeiten ausgesetzt. Viele Betroffene kämpften noch heute mit psychischen Problemen, so der Regisseur. Eine Zuschauerin bedankte sich, mit den Tränen kämpfend, dass Nielsen mit seinem Film solche Geschehnisse beleuchtet und sie nicht in Vergessenheit geraten lässt.
Die Vögel über dem Sund
Der jüdische Jazzgitarrist Arne führt im Kopenhagen der 1940er Jahre ein unbeschwertes Leben. Die Sorgen seiner Frau Miriam über eine drohende Deportation tut er ab. Schließlich sei man ja nicht in Polen, sondern in Dänemark. Doch eines Nachts zeigt sich, dass auf die von den deutschen Besatzern zugesicherte Eigenständigkeit Dänemarks kein Verlass ist: Bei einer Hausdurchsuchung können Arne, Miriam und ihr fünfjähriger Sohn Jakob nur noch knapp entkommen. Auf der Flucht vor der Gestapo versuchen sie, sich bis zum Küstenort Gilleleje durchzuschlagen, wo die Fischer mit ihren Kuttern die Überfahrt nach Schweden ermöglichen sollen. Doch unter den Helfern finden sich auch Verräter und diejenigen, die aus der Notlage der Flüchtenden Kapital schlagen wollen.
Der Film inszeniert die historischen Ereignisse äußerst spannungsvoll und lässt die Zuschauer unweigerlich Parallelen zum heutigen Umgang mit Geflüchteten ziehen. Auch Regisseur Nicolo Donato zog diese Parallele im Publikumsgespräch: Nachdem sich in den 1940er Jahren viele Dänen für Mitmenschlichkeit und Zivilcourage entschieden hätten, wäre Dänemarks aktuelle Flüchtlingspolitik enttäuschend. Auch dass die dänische Polizei mit einem neuen Gesetz die Befugnis erhalten hat, die Wertsachen von Flüchtlingen zu durchsuchen und gegebenenfalls zu beschlagnahmen, erinnere den Filmemacher an die Zeit des Nationalsozialismus. Damit erhält ein an sich schon sehr sehenswerter Film eine ungeheure Aktualität und Relevanz.
https://youtu.be/XC6YTsYw4c4
Serien: Midnattssol und #Hashtag
Auf die französisch-schwedische Serie Midnattssol war ich besonders gespannt, da ich bereits zu ihrer Veröffentlichung in Schweden viel über sie gelesen hatte und der Trailer schon sehr vielversprechend aussah. Der Plot scheint einer typischen Nordic Noir-Serie zu entsprechen, spielt aber vor der fantastischen Kulisse der nordschwedischen Natur um die Stadt Kiruna: Eine Pariser Polizistin untersucht dort mit ihren schwedischen Kollegen den brutalen Mord an einem Franzosen.
Was die Serie darüber hinaus interessant macht, ist die u.a. dieThematisierung der samischen Kultur. Außerdem gibt die schwedisch-samische Sängerin und Aktivistin Sofia Jannok ihr Schauspieldebüt und die Stadt Kiruna, die über einer Miene liegt und deshalb gerade umgesiedelt wird, spieltanscheinend auch eine Rolle. Außerdem haben die Regisseure Måns Mårlind und Björn Stein gleich zu Beginn deutlich gemacht, dass der Zuschauer vor keiner überraschenden Wendung sicher sein kann.
In Schweden hat die Serie schon für Begeisterung, vereinzelt aber auch für Kritik gesorgt. Der norrländische Dialekt des Hauptdarstellers Gustaf Hammarsten wäre nicht überzeugend, die Nordschweden im Allgemeinen und die Samen im Besonderen würden zu stereotyp dargestellt werden. Kritik, die von einigen der mitwirkenden Samen zurückgewiesen wurde. In Lübeck wurden nur die ersten zwei Episoden gezeigt. Ich bin jeden Fall gespannt wie es weitergeht und ob die Serie es auch ins deutsche Fernsehen schafft.
Zum Trailer: webb-tv.nu/midnattssol-svt-play
Ebenfalls interessant war die Jugendserie #Hashtag, die von den Instagram-Ausschreitungen in Göteborg 2012 inspiriert wurde. Ein „Slut Shaming“-Account auf Instagram hatte damals in Göteborg zu Krawallen und zu einem Prozess wegen Verleumdung in 45 Fällen geführt. Die Ereignisse von damals werden in acht Teilen frei nacherzählt.
Die Preisträger 2016
NDR Filmpreis:
HERZSTEIN (Hjartasteinn), Regie: Guðmundur Arnar Guðmundsson, Island
Publikumspreis der “Lübecker Nachrichten”:
DER TAG WIRD KOMMEN (Der kommer en dag), Regie: Jesper W. Nielsen, Dänemark
Baltischer Filmpreis:
DER GLÜCKLICHSTE TAG IM LEBEN DES OLLI MÄKI (Hymyilevä Mies), Regie: Juho Kuosmanen, Finnland
Kirchlicher Filmpreis Interfilm:
ROSEMARI, Regie: Sara Johnsen, Norwegen
Dokumentarfilmpreis:
DIE ÜBERFAHRT (Flukten), Regie: George Kurian, Norwegen
CineStar-Preis:
PAULS BOOT (À La Dérive), Regie: Cyprien Clément-Delmas, Deutschland
Kinder- und Jugendfilmpreis:
ICH BIN HIER (Es Esmu Seit), Regie: Renars Vimba, Lettland
Preis der Kinderjury:
GILBERTS GRAUSAME RACHE (Gilberts grusomme hevn)
Regie: Hanne Larsen, Norwegen
Die 58. Nordischen Filmtage Lübeck
Das bereits umfangreiche Programm wurde zudem noch durch Stummfilmkonzerte, Open-Air Installation, 360° Filme im Kuppelzelt und eine Virtual-Reality-Station berreichert. Mit einer VR-Brille konnte ich zum Beispiel in der ARTE-Produktion „Polar Sea 360°“ in die Arktis reisen und dort den Sonnenuntergang und Polarlichter beobachten.
Die Filmtage sind das einzige Festival, das sich ganz auf die Präsentation von Filmen aus dem Norden und dem Baltikum spezialisiert hat. Nirgendwo sonst hat man die Möglichkeit so viele nordische Filme zu sehen – und das auch noch im Original! – und nur wenige dieser Filme schaffen es auch in die deutschen Kinos. Allen Skandinavien- und Film-Begeisterten sei hiermit also ein Besuch der Nordischen Filmtage unbedingt empfohlen.
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