Der norwegische Film Mot Naturen zeigt das Wandern als die Selbsttherapie des modernen Mannes
von Jannik Gronemann
Was wurde in den letzten Jahren viel gewandert. Pilgerrouten wurden zu ausgetretenen Pfaden, Strandhandtücher gegen Trecking-Rucksäcke getauscht und Bücher wie Hape Kerkelings „Ich bin dann mal weg“ zu Bestsellern. Die Traumata vom Wanderurlaub mit den Eltern scheinen vergessen und so schnürt der moderne Mensch mittlerweile ganz freiwillig sein klobiges Schuhwerk. Nicht aus reinem Selbstzweck, sondern viel mehr als Bewältigungstaktik, um den Anforderungen unserer schnelllebigen Welt Herr zu werden.
Das legten zumindest die zahlreichen Interpretationen dieses Trends nahe, die allesamt zu einer ähnlichen Erklärung kommen: In Zeiten von nicht enden wollenden Informationsfluten, berufsbedingter Selbstausbeutung und einem vom „Always on“-Gestus gezeichneten Internetverhalten, bedarf es hin und wieder eben einer kompletten Entschleunigung. Back to basics. Back to nature. Hier, abseits aller Ablenkungen unserer Überflussgesellschaft, findet man wieder zu sich selbst und kann mit gesundem Abstand einen Blick auf das eigene Leben werfen. Der Weg als metaphysisches Ziel, das eine persönliche Katharsis ermöglicht. Man wandert und kommt als besserer und gefestigter Mensch am Ziel an. So zumindest die Theorie.
Diesen Ansatz verfolgt auch Martin, der Protagonist von Ole Giævers zweitem Spielfilm Mot Naturen. Für ein Wochenende will er seinen Alltag hinter sich lassen und durch die nahegelegenen Berge wandern, um mal den Kopf frei zu bekommen und seine Gedanken zu ordnen. Schnell wird dabei klar, dass Martin ein Produkt des zuletzt so viel beschworenen Zeitgeistes ist. Ein Angehöriger der Generation Maybe. Ein Zweifler. Ein selbstreflektierter Schmerzensmann. Da wo nicht mehr darüber gegrübelt werden muss wie das Essen auf den Tisch kommt und die globalisierte Welt eine Fülle an potentiellen Lebensentwürfen ermöglicht, bedarf es eben einer näheren Auseinandersetzung mit den eigenen Wünschen. Der amerikanische Psychologe Barry Schwartz beschrieb diese lähmende Kraft des Überflusses an Möglichkeiten in seinem Buch „Anleitung zur Unzufriedenheit“ als Auswahl-Paradox. 1
An diesem Paradox scheint auch Martin zu leiden. Auf dem Papier hat er alles, was man gemeinhin zu einem glücklichen Leben benötigt. In einer kleinen norwegischen Provinzstadt hat er sich mit seiner Frau und seinem Sohn in einem Haus wie aus dem IKEA-Katalog niedergelassen, er hat einen Bürojob und erfreut sich bester Gesundheit. Und trotzdem gibt es da diesen unerklärlichen Zweifel, der alles überschattet und Martins Familienglück, wie das Haar in der Suppe, schmälert. Und so spielt er mehrfach mit dem Gedanken alles hinter sich zu lassen und noch mal neu anzufangen. Dafür versichert er sich selbst, dass er ja noch gar nicht so alt sei und jederzeit an seine wilden Studententage in Tromsø anknüpfen könnte. Alles was es dafür bräuchte wäre ein drastisches Ereignis, das sein scheinbar schon vorherbestimmtes Leben durchbricht und ihm die Entscheidung abnimmt selbst etwas zu ändern.
Diese Überlegungen offenbart Giæver dem Zuschauer, indem er ihm den Eintritt zu Martins Kopf gewährt. Ein konstantes Voice-Over lässt ihn in seinen assoziativen Gedankenfluss eintauchen, der auf tragikomische Weise zwischen absurden Alltagsbeobachtungen, Tagträumen und sozialen Ängsten mäandert. Das ist einerseits vertraut komisch, wenn Martin minutenlang über die beste Formulierung einer SMS an seine Arbeitskollegen grübelt, um ihnen für den nächtlichen Barbesuch abzusagen und andererseits schmerzvoll intim, als er darüber sinniert, dass er seinem Sohn nicht der perfekte Vater ist, der er doch gerne wäre. Diese Intimität ist es, die Mot Naturen zu einem so eindringlichen Film macht. Wie privat oder peinlich Martins Gedanken auch sind, der Zuschauer erlebt alles ungefiltert mit. All die menschlichen Verfehlungen und Unzulänglichkeiten, die wir in unserem Alltag zu kaschieren versuchen, liegen hier offen da. Und so bleibt die Kamera, trotz der unendlichen Weiten der norwegischen Berglandschaft auch stets an Martin geheftet und spiegelt wider, dass er in der Wildnis wohl oder übel ganz nah bei sich ist. Die Natur bietet ihm keine Ablenkung, sondern lediglich einen Reflektionsraum.
Diese zutiefst menschlichen Einblicke in Martins aufgewühlte Psyche sind nicht die einzigen Indizien, die dafür sprechen, dass Regisseur Ole Giæver mit Mot Naturen wohl auch einen Teil seiner eigenen Geschichte verfilmt hat. Nach ersten Testaufnahmen mit einem anderen Schauspieler merkte er, dass er sich immer selbst als Martin gesehen hatte und beschloss kurzerhand neben Drehbuch und Regie auch noch die Hauptrolle zu übernehmen. Könnte man zunächst annehmen, dass man es hier deshalb mit einem kontrollsüchtigen Regisseur zu tun hat, der seine eigenen Fähigkeiten in einem Anflug von Größenwahn maßlos überschätzte, kann man nach Sichtung des Films nur froh sein, dass sich Giæver zu diesem mutigen Schritt durchgerungen hat. Denn auf diese Weise verstärkt er nur das Gefühl einem filmischen Seelenstriptease beizuwohnen, der persönlicher nicht sein könnte. Und so ist es auch nicht verwunderlich, dass einem Martin je tiefer er in die Natur vordringt, trotz aller Selbstbezogenheit näher kommt. Wie einem alten Freund, dem eine harte Prüfung bevorsteht, möchte man ihm fast liebevoll zurufen: Viel Glück da oben. Mit deinen Zweifeln. Mit deinen Wünschen. Mit dir selbst.
Info:
Titel: Mot Naturen
Regie: Ole Giæver, Marte Vold
Produktionsjahr: 2014
Produktionsland: Norwegen
Darsteller: Ole Giæver, Marte Magnusdotter Solem,
Länge: 90 Minuten
Notes:
- Laut Barry Schwartz macht die große Bandbreite an Möglichkeiten ab einer bestimmten Anzahl an Optionen den Menschen eher unglücklich und unsicher. Selbst wenn er sich zu einer Entscheidung durchringt, zweifelt er weiterhin daran die richtige getroffen zu haben und weint den vergebenen Chancen nach. ↩