“In Russland gibt es zwei Übel — ”, sagt Ewgenia gleich am Anfang und zwar in perfektem Deutsch, “Dummköpfe und Wege.”
Dann beginnt die Stadtführung und wir gehen auf Bretterstegen, Trampelpfaden und einst gepflasterten Bürgersteigen durch die Stadt. Wir sind für einen Sprachkurs hierher gekommen, zwei Wochen Archangelsk, eine Stadt im Norden Russlands. Ewgenia, eine kleine, ältere Frau, ist eine unserer Lehrerinnen. Sie weiß alles über Archangelsk. Wir wohnen im Studentenwohnheim, doch dessen Ausstattung liegt weit über dem russischen Standard (allerdings nur für uns “Touristen”, russische Studenten haben einen weit niedrigeren Standard), Zweierzimmer mit Fernseher, Dusche, Geschirr und einer netten Gemeinschaftsküche.
Ewgenia führt uns zu den Sehenswürdigkeiten der Stadt. Dabei bleiben wir zuerst an der Lomonossow-Büste stehen.
Lomonossow, der einzige “Sohn der Stadt”, dem die Einwohner verziehen hatten, dass er sich auf und davon gemacht hatte, nach Moskau und dann nach St. Petersburg, wo er studierte. Später zog er nach Marburg weiter und lernte an der dortigen Universität. Er wurde einer der angesehensten Gelehrten Russlands und gründete die erste Universität in Moskau mit, sie wurde nach ihm benannt. Der berühmte russische Dichter Alexander Puschkin sagte über ihn:
“Er schuf die erste Universität. Besser gesagt: Er war selber unsere erste Universität.”
Lomonossow soll sich einst als 19-Jähriger zu Fuß auf den Weg nach Moskau gemacht haben. Wir waren den umgekehrten Weg gefahren und unsere Zugfahrt nach Archangesk hatte schon zwanzig Stunden gedauert. Angenehm frisch war die Luft in Archangelsk, im Vergleich zu Moskau. Angenehm war auch die Stadt. Der Reiseführer hatte eine historische, aber “not exactly pretty city” angekündigt und so ähnlich zeigte sich Archangelsk dann auch: sanierungsbedürftige, aber sehr schöne alte Holzhäuser wechseln sich ab mit neueren Bauten, wie Bürogebäuden. Leider brennen immer mehr der alten Holzhäuser ab — oder besser werden abgebrannt — weil es zu teuer ist, sie zu renovieren und die Grundstücke mit neuen Gebäuden viel billiger bebaut werden können.
Stadtflucht, hohe Kindersterblichkeit und schlechtes Wasser
Vor kurzem war Putin in der bevölkerungsreichsten Stadt Nordrusslands, er habe Archangelsks größte Probleme angesprochen: Stadtflucht, die hohen Stromkosten, die niedrige Lebenserwartung und die hohe Kindersterblichkeit im Vergleich zu anderen russischen Städten ähnlicher Größe. Aber den Müll, den habe Putin nicht angesprochen bei seiner Rede, sagt Ewgenia “vielleicht weil er keinen gesehen hat.” Weitere Probleme liegen in der schlechten Wasserqualität, eine der schlechtesten überhaupt in Russland. Auch Warmwasser gibt es nicht immer. Dagegen scheinen die “Straßen und Dummköpfe” aus Ewgenias Anfangszitat (ein Sprichwort von Nikolai Gogol) eher nebensächliche Probleme zu sein.
Archangelsk als “Tor zur Arktis”
“Und wer ist das hier?”, fragt Ewgenia in die Runde und deutet auf fünf Büsten, aufgereiht vor dem Arktischen Museum, aufs Meer blickend. Keiner wusste die Antwort. “Das sind die Eismeerkapitäne.” Archangelsk wird auch das “Tor zur Arktis” genannt, weil früher viele Arktisexpeditionen, über 200 an der Zahl, von hier starteten. Diese errichteten z. B. Forschungsstationen, befuhren erstmals die Nordostpassage und versuchten den Nordpol zu erreichen.
Dabei konnten sie wahrscheinlich auch die arktischen Sommer nutzen, mit ihrer endlosen Helligkeit. Archangelsk liegt zwar noch unter dem Polarkreis, die Sonne geht aber auch hier im Sommer nicht unter. So kann man auch um Mitternacht noch im “Sonnenuntergang” durch die Straßen spazieren.
Das Erbe der Pomoren ist lebendig
Einst lebten in Archangelsk vor allem Pomoren, die im 12. Jahrhundert an den Küsten des Weißen Meeres siedelten. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hat man sich auf dieses Erbe besonnen und so wurde 1990 eine Handarbeitsschule gegründet, um das Volkshandwerk der Pomoren zu bewahren und weiterzuentwickeln. Seitdem können Kinder und Jugendliche hier Kurse in traditionellem pomorischem Handwerk belegen, z. B. in Holzmalerei, Knochenschnitzen, künstlerische Holzschnitzereien oder der künstlerischen Verarbeitung von Birkenrinde. Die Schule ist ziemlich groß und hat heute 250 Schüler. Regionale Traditionen scheinen in Nordrussland also im Trend zu liegen. Beim Besuch der Schule bekam ich es mit Mühe und Not hin, unter Anleitung eine Brosche zu nähen, meiner Freundin Leo ging es ähnlich. Wir waren am Ende trotzdem stolz.
Ebenfalls mit den Pomoren beschäftigte sich unser erstes Ausflugsziel im Rahmen des Sprachkurses: das Freilichtmuseum “Malyje Korely”, übersetzt heißt es “Kleines Karelien”. Es ist eines der beliebtesten Touristenziele der Region, nur 25km entfernt von Archangelsk. Das ganze Museum widmet sich der Tradition und dem Erbe der Pomoren und präsentiert um die 100 Gebäude, die aus dem 16. bis 20. Jahrhundert stammen. In viele der Häuser kann man hineingehen und findet darin weitere Gegenstände und die Einrichtung aus der Zeit. In einigen Gebäuden trifft man auf Babuschkas in Trachten.
Ein herzliches Willkommen
Aber was ist Russland ohne seine Bewohner? “Cold hands, warm heart?”, fragte mich mein Reiseführer für Northern European Russia schon auf der ersten Seite und gab sich auch gleich selbst die Antwort: “The idiom has never rung more true than in this land of polar winters and cliché-busting Russian hospitality […]”.
Schon vom ersten Tag an spürten wir die Gastfreundschaft der Menschen im russischen Norden. Immer wurde bestens für uns gesorgt, wurden wir herumgeführt und eingeladen. Mehrere Studenten, die Deutsch oder Englisch studierten, betreuten uns und ließen uns auch an ihrem Leben teilhaben. An einem Wochenende organisierte eine der Lehrerinnen ein Picknick, an einem anderen lud uns eine Studentin zu sich nach Hause ein. Der Lonely Planet hatte also nicht zuviel versprochen!
Hier geht’s zu den anderen Teilen unserer Serie:
Nordrussland: Der andere Norden
Dieser Artikel erschien auch im Reiseblog Reise! Reise!
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