Die kleine Frau in der leuchtend blauen Jacke kriecht fast in das Reaktormodell, sie muss sich alles ganz genau ansehen und dazu ganz nah heran. „Dort oben hängt ein Brennstab“ der Mann deutet auf einen langen dünnen Metallstab der genau über der kleinen Gruppe schwebt, „der strahlt nicht mehr“ beruhigt er. Es ist eng in dem Raum, durch ein Fenster sieht man in dem tieferliegenden, erstaunlich großen Reaktorraum zwei Gestalten in weißen Anzügen an den Reaktoren werkeln. Die Gruppe wird auf die Brücke geführt. Bis 1989 war der Atomeisbrecher Lenin im Einsatz, 32 Jahre hatte er bis dahin der Sowjetunion gedient, 320 Menschen arbeiteten einst auf dem Schiff. Er war Anzugspunkt für Prominente wie Juri Gagarin und Fidel Castro. Heute ist der erste Atomeisbrecher der Welt ein Museum.
Murmansk? Wo liegt das eigentlich?
Die Lenin liegt im Hafen von Murmansk, der größten Stadt nördlich des Polarkreises. Wer aus dem Ausland hierher kommt, will selten Urlaub machen. Ans Weiße Meer kommt man kaum heran, denn sämtliche Küstenorte sind für Ausländer Sperrgebiet. Dort liegt, streng geheim, die russische Atom-U-Boot-Flotte, die Nordflotte. Auch sonst hat sich die Stadt eher einen Ruf als „wohl größte Atommüllhalde der Welt“ gemacht, denn als Reiseziel.
Dementsprechend wurden wir vor der Reise befragt: „Murmansk? Wo liegt das eigentlich? Und was gibt es da?“ Um das herauszufinden, fahren mein Kumpel Lutz und ich, nach der Summer School in Archangelsk direkt nach Murmansk, Breitengrad 68,9. Die Zugfahrt dauert dreißig Stunden.
Um 3:50 Uhr morgens läuft der Zug in den Murmansker Bahnhof ein. Wir werden von Denis abgeholt, den Lutz über das Internetportal Couchsurfing angeschrieben hatte. Er wird uns für die nächsten vier Tage bei sich aufnehmen. Seine Frau und seine Kinder sind schon in den Ferien bei den Großeltern, Denis muss noch arbeiten. Wir schlafen auf den Matratzen seiner Kinder, in der Küche schlafen noch andere Couchsurfer.
Atom-U-Boote vor der Küste
Bis jetzt hatte ich von Murmansk lediglich im Zusammenhang mit ungesichertem Atommüll gehört, was Dirk Sager in seinem Buch “Russlands hoher Norden” folgendermaßen beschreibt:
“Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion konnten Militär und Geheimdienst das Ungemach nicht mehr völlig verschleiern. […] Die Flotte musste zugeben, dass sie radioaktiven Abfall einfach ins Meer geschüttet hatte, dass Boote mit Reaktoren an Bord an Kais verrotteten und dass sich an Land Berge von strahlendem Müll angesammelt hatten. Damals ging eine Welle des Entsetzens über ganz Europa.”
Danach hatten westliche Länder viel Geld und Wissen bereitgestellt, um den Müll sicherer zu lagern. Seitdem hört man ab und zu in den Medien von der Fertigstellung von Lagerungsstätten und Abwrackstationen für Atom-U-Boote. Drei der alten Atom-U-Boote sind jedoch gesunken, oder wurden versenkt, von ihnen geht noch immer eine große Gefahr aus, wie Arte in der Dokumentation “Atomfriedhof Arktis” aus dem Frühjahr 2013 berichtet. Auch ein Reaktor der „Lenin” liegt vor Murmansk auf dem Meeresgrund, “bestückt mit horadioaktiven Kernbrennstoffen”. In der Doku nennt der ehemalige Leiter der Abteilung für Reaktorsicherheit im Bundesumweltministerium Wolfgang Renneberg die Gefahr eine “schleichende Katastrophe”.
Im Gegensatz zu den drei Atom-U-Booten, die noch auf dem Meeresgrund dahinrosten, wurde die im Jahr 2000 gesunkene Kursk gehoben. Es war die erste Bergung eines solchen U‑Boots überhaupt. In Murmansk steht heute ein Denkmal für die Toten der Kursk, es ähnelt dem Tower des U‑Boots.
Auf Trampelpfaden durch die Stadt
Murmansk ist lebhafter als Archangelsk. Mehr Menschen, Autos und Busse sind auf der Straße oder es kommt einem zumindest so vor. Die Straßen und Wege sind aber in einem ähnlich schlechten Zustand wie in Archangelsk und die Bewohner bewegen sich hauptsächlich auf Parallelwegen, selbstausgetretenen Pfaden, durch die Stadt. Hier existiert ein ausgeklügeltes Wegesystem, auf russisch „Narodny Dorogy“, Volkswege genannt. Auf diesen Wegen gelangen wir in die Innenstadt, wo wir uns das Regionalmuseum ansehen (zum Teil gibt es englische Erklärungen) und auch zum Denkmal für die “Verteidiger der Sowjetischen Polarregion im Großen Vaterländischen Krieg”, im Volksmund auch „Aljosha“ genannt. Das zweitgrößte Denkmal Russlands stellt einen 35,5 Meter hohen Soldaten dar, der ein bisschen grimmig in die Landschaft blickt. Zu seinen Füßen lodert eine ewige Flamme. Auch zur Lenin gelangen wir zu Fuß und auf teils verschlungenen Pfaden, doch ist das Museumsschiff geschlossen, Führungen gibt es immer nur mittwochs und freitags um 12.00 Uhr.
Eine unheimliche Bustour
Denis teilt sein Leben mit uns, sobald er nach Hause kommt. Am zweiten Tag holt er uns nach der Arbeit bei sich zu Hause ab. Zusammen mit einer weiteren Freundin, Paulina, fahren wir auf einen Hinterhof. Dort wartet ein Kleinbus, in dem zwei Männer sitzen. Soweit so unheimlich.Die beiden Männer sind Freunde von Denis. Ich verstehe nur Bruchstücke von dem, was geredet wird. Zu sechst fahren wir mit dem Kleinbus. Die beiden Männer unterhalten sich laut, sie heißen Ikos und Wanja. Mir ist immernoch ein bisschen unheimlich zu Mute. Wir fahren zur anderen Uferseite über den Fluss Tuloma. Hier halten wir bald am Straßenrand und folgen einem Trampelpfad in den Wald — immer noch unheimlich. Ikos redet unentwegt auf Lutz ein, ich schnappe nur Wortfetzen auf, mich nennt er nur „Frau“ und sieht mich komisch an. Wir wandern zu einem Wasserfall und trinken dort angekommen ein Bier, Paulina will mich unbedingt vor dem Wasserfall fotografieren — nicht mehr unheimlich. Auf dem Rückweg halten wir nochmal direkt am Fluss. Auf Holzpaletten führt ein Weg zu einem Wasserhahn, aus dem beständig Wasser fließt, Grundwasser. Ikos, Wanja und Denis haben große Kanister dabei und füllen das Wasser ab. Es ist das Trinkwasser, das auch in Denis’ Küche steht und das auch wir seit zwei Tagen trinken. Denis rühmt dieses saubere Trinkwasser. In meinem Hinterkopf taucht der Gedanke auf, dass Murmansk vor zehn Jahren noch als größte Atommüllhalde der Welt galt und ob sich das irgendwie auf das Trinkwasser.… — ich schiebe den Gedanken beiseite. Wenig später sitzen wir in Ikos‘ Küche und essen Fisch, den Wanja gerade gebraten hat. Dazu trinken wir Tee, es ist gemütlich und sehr lustig.
Am nächsten Abend mietet Denis eine Sauna für uns, an einem anderen Abend schauen wir gemeinsam Fußball und am Abschiedsabend gibt es eine Bliny-Party, bei der auch Ikos und Wanja wieder zugegen sind.
Am letzten Tag fährt Denis uns noch einmal zur Lenin, unser Zug geht 14.30 Uhr, vorher sehen wir uns noch den alten Atomeisbrecher an. Es stehen schon viele Leute davor, auch die kleine Frau in der leuchtend blauen Jacke.
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