Bei dem Wort “Norden” denken wir meist an weite Natur, rote Sommerhäuser, an Bullerbü, Badeseen und Urlaub, im besten Fall noch an Geysire und Vulkanasche. In dem Norden, den ich in meinen nächsten Beiträgen beschreiben will, findet sich außer der schönen Natur nichts von alledem. Kein Bullerbü, keine Geysire, kein Badestrand. In unserer neuen Serie soll es um Nordrussland gehen. Denkt man an diese Region kommen einem eher Worte wie Atom-U-Boot, Nordflotte oder Industriestadt in den Sinn. Nordrussland grenzt zwar an Norwegen und Finnland, erscheint aber doch wie eine ganz andere Welt.
Die Wikinger fuhren zum Plündern nach “Bjarmaland”
Schon die alten Wikinger reisten damals nach Nordrussland. Als erstes erzählte der Norweger Ottar aus Hålogaland von einer Region, die er Bjarmaland nannte. Seine Reiseroute ist nicht ganz sicher, aber er könnte als Erster das Nordkap umsegelt haben und dann nach Süden gefahren sein, wo er dann einen großen Fluss erreichte, der wahrscheinlich die Nördliche Dwina war, die bei Archangelsk ins Meer mündet. Dies geschah wahrscheinlich im Jahr 890. Später brachen auch Erik Blutaxt und Harald Graufell nach Bjarmaland auf, wo sie, der Heimskringla nach, plünderten und viele Menschen töteten. Im 11 Jhd. unternahmen vor allem Russen aus dem, kurz unter St. Petersburg, gelegenen Novgorod Expeditionen zum Jagen und Fischen ans Weiße Meer. Während dieser Expeditionen wurden erste Siedlungen an der Weißmeerküste gegründet. Deren Bewohner, die Pomoren, entwickelten eine eigene Kultur und einen eigenen Dialekt der russischen Sprache. Im 15. Jahrhundert fiel der russische Norden, der bis dahin zur Republik Novgorod gehörte, an das Großfürstentum Moskau. Besonders unter Iwan dem Schrecklichen flüchteten viele Siedler in den Norden, wie Dirk Sager in “Russlands hoher Norden” schreibt. So entzogen sie sich dem grausamen Regime des Zaren, denn:
“Damals, wie auch in den späteren Jahren, bot der Norden ein Refugium für jene, die die Unabhängigkeit liebten.”
Allerdings sei heute nur noch wenig davon zu spüren, so Sager.
Die Schweden greifen an
Das 16. Jahrhundert neigte sich schon seinem Ende, als Iwan der Schreckliche das Erzengel-Michael-Kloster befestigen ließ, aus dem später Archangelsk hervorging. Es war zunächst die einzige russische Hafenstadt am Meer. Am Anfang blühte der Handel vor allem mit England, doch bald auch mit allen anderen europäische Ländern. Die Pomoren reisten umher und entdeckten im Norden die Inseln Nowaja Semlja, Franz-Josef-Land und Spitzbergen. Der junge Peter der Große ließ in Archangelsk eine Werft errichten, für die erste russische Flotte überhaupt. Das erste Schiff war das Handelsschiff Sankt Paul. Es lief im Juni 1694 vom Stapel.
Weil die schwedische Kriegsflotte auf dem Weißen Meer operierte ließ Peter im Jahr 1701 Archangelsk weiter befestigen. Bereits im Sommer des selben Jahres tauchten schwedische Kriegsschiffe das erste Mal an der Mündung der Nördlichen Dwina auf. Aber die Festung hielt und wenig später hatte Russland seinen ersten Sieg gegen Schweden errungen.
Doch mit der ganzen Herrlichkeit des Aufstiegs von Archangelsk war es vorbei, als Peter zwei Jahre später St. Petersburg gründete und es 1712 zur Hauptstadt ernannte. Der Außenhandel verlagerte sich mehr und mehr in die Ostsee und nachdem 1916 in Murmansk ein eisfreier Hafen gebaut wurde, verlor Archangelsk auch seine Bedeutung als Nordmeerhafen.
Die Brotration war mit der von Leningrad zu vergleichen
Anfang des 19. Jahrhunderts brach eine andere Zeit an, für Archangelsk und die nördliche Region Russlands. Auch “Tor zur Arktis” genannt, begann hier die Erforschung der eisigen Welten im äußersten Norden. Mehr als 200 Forschungsexpeditionen in die Arktis wurden von hieraus unternommen. Und Anfang des 20. Jahrhunderts trat dann auch Murmansk in die Geschichte ein. 1916 wurde die Stadt als letzte Stadt des Russischen Zarenreichs gegründet. Sie sollte den Endpunkt für die Murmanbahn darstellen, über deren eisfreien Hafen sollte die Stadt das Zarenreich ganzjährig mit Rüstungslieferungen seiner westlichen Alliierten versorgen können.
Im Ersten Weltkrieg lieferten die Alliierten (Frankreich, Großbritannien und ab 1917 die USA) über die Häfen von Archangelsk, Murmansk und Wladiwostok Nachschub an Waffen, Munition und Nahrung an Russland. Nach der Oktoberrevolution, am 17. Februar 1918, landeten britische und französische Truppen an der Dwinamündung und besetzten Archangelsk. Auch Murmansk besetzten sie und unterstützten von den Städten aus die “Weißgardisten” gegen die Rote Armee. Erst 1920 gelang es der Roten Armee, die Städte zurückzuerobern, in denen sie auf erbitterten Widerstand stieß.
Im Zweiten Weltkrieg wurden die Häfen in Murmansk und Archangelsk dann wieder von den Aliierten genutzt, um die Sowjetunion zu unterstützen. Die Deutschen nahmen vor allem Murmansk unter Beschuss und bombten es zu Schutt und Asche. Hier wollten sie den Nachschub der Aliierten über See sowie den Transport durch die Murmanbahn abschneiden. Die Deutschen rückten 1941 mit Operationen wie “Unternehmen Rentier” oder “Unternehmen Polarfuchs” auf Murmansk zu, waren jedoch den arktischen Bedingungen und dem bis dahin unbekannten Gegner nicht gewachsen. Archangelsk war im Zweiten Weltkrieg ein Ziel der deutschen Wehrmacht, konnte jedoch ebenfalls nicht erreicht und erobert werden. Es war während der gesamten Kampfhandlungen zwischen Deutschland und der Sowjetunion der wichtigste Nachschubhafen, über den die Amerikaner die Rote Armee und das Landesinnere mit Nahrung und Waffen versorgten.
Die Bevölkerung Archangelsks blieb von den Auswirkungen des Krieges nicht verschont, die Stadt brannte, die Menschen hungerten: Die Brotration war mit der von Leningrad zu vergleichen. Nur die Jagd auf Robben verhinderte eine größere Hungerkatastrophe.
Das düsterste Kapitel der russischen Geschichte erreicht auch den Norden
Nach dem Sieg der Roten Armee 1920 und dem Tod Lenins 1924 begann das düsterste Kapitel der russischen Geschichte. Die Regionen um Archangelsk und Murmansk wurden Teil des Systems der sowjetischen Arbeitslager. Die Arbeiter, die in diesen GULags (Glawnoje uprawlenije isprawitelno-trudowych lagerej i kolonij, Hauptverwaltung Lager) schufteten, wurden u.a. zur Holzgewinnung, im Straßenbau, in der Landwirtschaft, im Fischfang, im Eisenbahnbau sowie beim Bau von militärischen Objekten eingesetzt. Die Solowezki-Inseln und einige Lager auf dem Festland südlich von Sewerodwinsk waren zur „besonderen Verwendung“ (SLON) vorgesehen und wurden als erste sowjetische „Konzentrationslager“ schon in den 1920er-Jahren eröffnet. In den größten GULags, um Archangelsk herum waren über 30 000 Menschen gleichzeitig interniert. Die meisten GULags wurden bis 1953 (Tod Stalins) wieder geschlossen und das düsterste Kapitel der russischen Geschichte endete.
Am 23. September 1937 wurde die nördliche Region geteilt und es entstanden die Gebiete (Oblaste) Wologda und Archangelsk.
In den 1950er-Jahren stationierte man in Archangelsk die Atomeisbrecherflotte des Nordmeeres, während die Atom-U-Boote in Murmansk vor Anker lagen.
Im Gebiet Archangelsk befindet sich außerdem ein Weltraumstartplatz – der Kosmodrom „Plessezk“. 1966 startete vom Kosmodrom „Plessezk“ erstmals eine Satellit in eine Erdumlaufbahn. Die 60er Jahre gelten als Jahre der großen Bebauung, die vom Ersten Sekretär Chruschtschow angeordnet wurde.
Ich habe in dieser spannenden, vielleicht in Deutschland etwas unbekannten Region diesen Sommer einige Zeit verbracht. Im nächsten Teil unserer neuen Artikelserie zu Archangelsk und Murmansk geht es um meine Reise dorthin und was man vor Ort alles erleben kann.
Hier geht’s zum zweiten Teil der Serie: Archangelsk – Hauptstadt des Nordens
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