Vier samische Familien kommen jedes Jahr mit ihren Rentierherden auf die Magerøya. Sie gehören mit zu den ca. 10% der norwegischen Sami, die immer noch auf die traditionelle Weise leben und Rentierzucht betreiben. Jedes Jahr genießen also mehrere tausend ihrer Tiere den subarktischen Sommer auf dieser kleinen Insel. Sie knabbern an Moosen, Flechten und Bäumen in den Gärten der Einheimischen, die Bullen bekommen hier ihr Geweih, die Kühe verlieren es und bekommen es im Laufe des Spätsommers wieder, alle zusammen wechseln das Fell (und sehen deswegen ein paar Wochen lang etwas armselig aus) und trödeln ganz entspannt von einer Stelle zur anderen. Im Laufe des Junis kommt der Nachwuchs auf die Welt. Auf den Weiden sieht man dann kleine weiße und braune Kälber ganz sorglos herumhüpfen, bis sie Mitte Juli plötzlich zusammen mit ihren Müttern für einige Tage verschwinden, um die erste Erfahrung mit den Menschen zu machen — beim Markieren. Für mich und einige meiner Kollegen ergab sich dieses Jahr die Möglichkeit, beim Markieren die erste, hautnahe Erfahrung mit einer Rentierherde zu machen — ein Angebot, das man nicht ablehnen kann.
Für einen Außenstehenden ist die Markierungsarbeit von Anfang an ein Spektakel. Markiert wird auf einem besonderen Gelände. Darauf stehen einfache Häuser und Wohnmobile, in denen sich die Sami während dieser Tage aufhalten. Vor ihnen sind Autos und Quads zum Zusammentreiben der Herden abgestellt. Ab und zu werden sie von den samischen Teenagern gestartet. Sie drehen zum Spaß eine Runde ums Gelände und nehmen sogar ihre jüngeren Geschwister mit, damit sie auch etwas von den coolen Spielzeugen haben.
Der eigentliche Arbeitsplatz ist ein riesiges, labyrintähnliches Gehege. Durch Draht- und Holzzäune sowie orange und grüne Netze sind die einzelnen Teile der Anlage abgrenzt. Bei unserer Ankunft sind die Kühe und Kälber in zwei Gruppen gesammelt. Sie ahnen wohl bereits, dass etwas ungewöhnliches ansteht und laufen ständig von einer Seite zur anderen — grunzend, wie kleine Schweinchen.
Mitten in dem Rentierlabyrinth sieht man eine Gruppe von Männern. Ihre Arbeitskleidung — abgetragene Sporthosen und Jacken, Gummistiefel und Riesenbotten. Unseren Gastgeber erkennen wir gleich. Nils heißt normalerweise in seiner traditionellen Tracht die Besucher im Samilager willkommen. Heute hat er so wie die Anderen ein weniger prächtiges Outfit gewählt. Seine viereckige samische Mütze setzt er jedoch nicht mal jetzt ab.
“Wie spät ist es?” möchte Nils wissen, als wir in seinem Wohnmobil sitzen.
“Kurz nach sieben,” antwortet eine von uns.
“Früh oder am Abend?” fragt Nils und muss bei dieser Frage selbst grinsen. Beim Markieren orientiert man sich nicht an der Zeit. Die Sonne geht Mitte Juli noch nicht unter, daher verschwindet draußen in der Natur das Gefühl für die Zeitorientierung sehr schnell. Man passt sich an das Wetter und den Verlauf der Arbeit an. An regnerischen, nebligen und zu windigen Tagen wird nicht gearbeitet, denn in der ersten Phase ist es am wichtigsten, gut sehen zu können und alle Unklarheiten bei der Zuordnung der Rentiere zu vermeiden. Die Kälber werden anhand der Ohrmarkierung ihrer Mütter dem entsprechenden Besitzer zugeordnet. Zuerst bekommt jedes ein Schild mit einer Nummer um den Hals gehängt. Auf einer großen Tafel wird dann aufgeschrieben, welche Nummer welcher Familie gehört. Viel Geduld braucht man also, bis die eigentliche Markierungsarbeit anfängt. Wir müssen uns auch etwas gedulden und bleiben ungefähr eine Stunde bei Keksen und Schokolade in Nils Wohnmobil sitzen. Zum Glück wird er vom Thema Rentier nicht müde. Er erzählt, beantwortet unsere Fragen, macht Witze… so geht mehr als eine Stunde um. Irgendwann werden wir doch von draußen gerufen. Es geht los. Und wir machen mit!
Naja, eigentlich nicht ganz. Wir dürfen uns schon mit ins Gehege stellen, in dem die Kleinen gefangen und markiert werden sollen. Mit den Kameras und Smartphones in den Händen stehen wir ganz nah an den Zäunen als die erste Gruppe von ca. 30 Tieren reingelassen wird. Das Tor wird schnell wieder geschlossen, die Rentiere sind verwirrt, laufen in Kreisen, versuchen den Weg raus zu finden. Unsere Aufgabe ist klar: die Kälber mit den gelben Tafeln um den Hals muss man fangen.
Drinnen im Gehege hilft jeder mit. Von kleinsten Kindern, über etwas ältere Jungs, die erstaunlich geschickt sind und mit einem einzigen Griff das Rentier fangen können, als ob sie nie im Leben etwas anderes gemacht hätten, bis zu den Eltern und Großeltern.
Fangtechniken gibt es mehrere. Wir entwickeln aber noch eine Reihe unserer eigenen, ganz speziellen Griffe und Positionen. Sie bringen zwar nichts, sehen aber zumindest auf Bildern sehr schön aus. Die “Kuscheltechnik” scheint zuletzt am besten für die Anfänger geeignet zu sein. Man muss bloß die passende Kleidung und keine Angst vorm Dreck haben. Wichtig ist es auch zu wissen, wie man dem kleinen Rentier nicht alle Knochen im Körper bricht, wenn man sich darauf wirft.
Bald stehen alle Kälber fest in den Händen der Sami. Nun öffnet sich das Tor wieder, damit die Rentierkühe rauslaufen können und man mit dem eigentlichen Markieren anfangen kann. Von jetzt an verläuft alles recht schnell. Es werden Nummern und Namen von der großen Tafel gerufen, damit jedes Kalb den richtigen Besitzer findet. Mit einem einfachen samischen Messer schneidet man dann das Ohr des Kalbes in eine Form zu, die von der jeweiligen Familie benutzt wird. Ein Stückchen von jedem markierten Ohr wird gut aufbewahrt und versteckt, damit am Abend gezählt werden kann, um wie viele Kälber die Familie dieses Jahr reicher geworden ist. Eine Zahl, die man von den Sami nie erfahren würde. Die Rentiere sind ihr Reichtum und so wie wir alle, sprechen sie nur ungern darüber, wie reich sie in Wirklichkeit sind…
Kälber fangen, Ohren schneiden… mag zunächst etwas brutal klingen. Ein bisschen Blut kommt von dem Ohr schon raus und manchen Kälbern muss man zurück auf die Beine helfen, denn viele sind im Schock. Wenige Minuten nach dem Markieren stehen sie aber schon wieder bei ihren Müttern und wer weiß, ob sie sich überhaupt noch daran erinnern können, was vor kurzem passiert ist. Für die Sami selbst ist die Arbeit Routine. Den Markierungsprozess wiederholt man mehrmals am Tag, ungefähr zwei Wochen lang. Kein Wunder, dass man ab und zu ein, zwei gelangweilte Gesichter sieht.
Zum ersten mal mitten im Gehege zu stehen, die Rentiere aus nächster Nähe zu sehen, versuchen sie zu fangen und sogar beim Schneiden zuzuschauen ist ein unglaubliches Erlebnis. Nur Schade, dass ich diesmal kein Kalb fangen konnte…
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