von Beate Kury
Das neue Jahr beginnt mit großer Vorfreude: Von meinen Freunden Erlend und Terese war ich für fünf Tage nach Norwegen eingeladen worden und nicht nur das: Eine Hyttetur stand auf dem Programm. Aus meinem etwas länger zurückliegenden Norwegischkurs weiß ich, dass die sogenannte Hyttetur zum norwegischen Kulturgut gehört und so gut wie jede norwegische Familie ihren kleinen Rückzugsort irgendwo in der Pampa besitzt. Googelt man Hyttetur, stößt man jedoch auf haarsträubende Geschichten, von Erasmusstudenten, die ihre Hütte abfackeln über verregnete Tage in einer eiskalten Baracke mitten im Nirgendwo bis zum stinkenden Außenklo, auf das man nur kommt, wenn man durch meterhohen Schnee watet. Unnötig zu sagen, dass mir etwas bange ist. Zumal meine Freunde eine Langlauftour angekündigt haben, was dann auch die erste meines Lebens ist. Doch ganz von vorne:
Vom ca. eine Zugstunde westlich von Oslo gelegenen Mjøndalen fahren wir nach Kongsberg, laden dort noch ein paar Schneeschuhe und Wasser ein und düsen weiter Richtung Westen ca. eineinhalb Stunden nach Rødberg, besuchen die Stabkirche in Ulvdal – hier in der Nähe hat auch die Königsfamilie ihre Hytte — und dann biegen wir ab in Richtung Borgegrendi. Wir schrauben uns wildschöne Straßen den Berg hinauf.
Wir hoffen, dass auf der Hütte noch genug Schnee liegt, um Skifahren zu können. Tereses größte Sorge ist die Befahrbarkeit der Straße zur Hytte, denn eine dicke Eisschicht hat sich auf die Straße gelegt. Sobald sich Einheimische Sorgen machen, tue ich es auch. Die ersten zwei Kilometer schaffen wir es, doch kurz vor Erreichen der Hütte müssen wir Mädels doch aussteigen und anschieben, damit das Auto auf gröberem Untergrund am Straßenrand Halt findet. Dass wir selbst dabei keinen festen Stand auf der Straße haben, erleichtert das Ganze nicht unbedingt. Diese Prozedur wiederholen wir noch zwei, drei Mal und haben es dann tatsächlich nach einer halben Stunde geschafft!
Mittlerweile sind wir so weit oben in den Bergen, dass eine dicke Schneeschicht liegt und dem geplanten Skifahren am nächsten Tag nichts entgegen steht. An einem kleinen Parkplatz ist Schluss – ab hier müssen wir zu Fuß weitergehen. Ich bekomme Schneeschuhe angeschnallt, um den Weg freizutreten. Was in Filmen immer nach sehr viel Spaß aussieht, ist in Wahrheit wahnsinnig anstrengend und so richtig unter Kontrolle bekomme ich meine Füße nicht. Doch bereits nach einem fünfzehnminütigen Marsch sind wir da und ich bin positiv überrascht: wir stehen vor einem schönen Holzhaus und nach unserem Eintritt offenbart sich eine Gemütlichkeitsszenerie in Reinform: Küche, Esszimmer, Wohnzimmer mit Schaffellen auf den Sesseln neben dem Kamin, karierte Gardinen und flauschige Teppiche. So toll hatte ich mir eine kleine Hütte nicht vorgestellt.
In der Hütte – die ich gar nicht so nennen möchte – ist es nur eines: eiskalt. Seit drei Monaten war keiner mehr hier, sagt Terese, wir müssen also erstmal Feuer machen. Das übernimmt Erlend und für erste, innere Wärme gibt es einen Schnaps auf unsere Ankunft. „Eine Hyttetur bei der man nicht um acht Uhr betrunken ist, ist keine richtige Hyttetur,“ erklärt mir Erlend mit einem Grinsen. Oha. Wir haben es schon sechs. Meine Freunde haben ein besonderes Essen vorbereitet: pinnekjøtt. Das sind Lammkotteletts, die zunächst in Salz eingelegt werden und danach tagelang in Wasser eingelegt werden, um das Salz herauszuziehen. Anschließend wird das Fleisch drei- bis vier Stunden in einem großen Topf auf kleine Holzscheite gelegt und dampfgegart. Viele norwegische Familien essen diese Spezialität an Weihnachten und ich bin gespannt. Während das Fleisch durchgart, sitzen wir am Feuer, unterhalten uns und trinken weiter. Es ist der Inbegriff von Gemütlichkeit. Wir spielen ein Fragespiel, bei dem man herausfinden soll, wie norwegisch man ist – ich schlage weit hinter Terese und Erlend ab, da ich zu viele Menschen kenne, die kein Langlauf können und mich insgesamt in der Wintersportgeschichte zu wenig auskenne. Dennoch sitze ich in einem wahrgewordenen Klischee am Feuer.
Zum Fleisch gibt es Kartoffeln, eine Art Rübenstampf und zerlassene Butter mit Wachholderbeeren. Das Fleisch fällt fast von alleine vom Knochen und das Bier dazu schmeckt nicht nur wegen seines horrenden Preises hervorragend. Wir spielen weitere Spiele, die Hütte ist nun richtig warm geworden und Müdigkeit schleicht sich ein. Draußen hat es wieder begonnen zu schneien: Morgen geht es auf die Piste!
Ich erkläre mich selbst zur Schneeschmelztopf-Beauftragten und sehe nach, dass wir genug warmes Wasser zum Händewaschen haben. Denn auch wenn das Bad voll ausgestattet ist, wäre eine Dusche ein etwas größeres Unterfangen, deshalb lassen wir das für ein Wochenende einfach sein. Auch das Plumpsklo ist etwas gewöhnungsbedürftig. Aber dass ich nicht durch Tiefschnee auf ein Toilettenhäuschen stiefeln muss, beruhigt mich dennoch enorm und ich bin vom Komfort dieser Hütte mitten im Nirgendwo sehr überrascht.
Am nächsten Morgen macht sich die fehlende Zentralheizung bemerkbar. Als ich meine Zehen aus dem Bett strecke, hat es im Zimmer empfindliche, einstellige Temperaturen. Dass ich meinen Atem noch nicht sehen kann, überrascht mich fast. Meine Freunde sind noch nicht wach und so beschließe ich, auf die Veranda zu schleichen um das morgendliche Panorama zu genießen. Die Sonne klettert über die Baumwipfel und die Nacht hat ein paar Zentimeter Neuschnee dazugelegt. Absolute Stille. Außer das Rascheln der Bäume höre ich keinen Ton. Diese Ruhe und Abgeschiedenheit fühlt sich gut an. Friedlich.
Im Schnee finden wir später sich kreuzende Fuchs- und Hasenspuren. Hier sagen sie sich also Gute Nacht. Endlich habe ich diesen Ort gefunden!
Die größte Herausforderung des Tages steht mir noch bevor: Wir werden sehen, wie ich mich beim Langlauf, einer bis dato völlig unbekannten Sportart, schlagen werde. Zwar weiß ich, wie man sich auf Skiern verhält, aber geradeaus auf ihnen durch den Schnee zu joggen, ist mir neu.
Der Langlauf ist eine Sportart, die wahrscheinlich alle Norweger beherrschen. Ich stehe zwei Sekunden auf den Skiern und dann liege ich. Die federleichten Skier fordern mein Gleichgewicht heraus, da der Halt normaler Skischuhe fehlt. Auf den nächsten zwanzig Metern falle ich in alle Richtungen, nach vorne nach hinten, nach rechts, nach links… . Wir fahren los, Loipen gibt es keine, also durch den Tiefschnee. Terese voran, ich hinterher, Erlend bildet das Schlusslicht und passt auf, dass ich nicht verlorengehe.
Nach fünfzehn Minuten finde ich mein Gleichgewicht und gleite vorsichtig auf meinen Skiern durch die Landschaft, nur eine kleine Bergabfahrt schaffe ich nicht ohne Unfall. In Gedanken entschuldige mich bei allen Langläufern, über die ich während meiner Abfahrtski-Zeit Witze ob ihres langweiligen Sports gemacht habe. Langlauf ist nicht einfach.
Wir fahren durch die verschneite Landschaft, vor uns fegt der Wind den Schnee über die Ebene und ich fühle mich wie auf einer kleinen Polarexpedition. Das langsame Gleiten durch die Ebene entspannt und macht Spaß, die Sonne sorgt für ein bisschen Wärme. Nach einer Stunde beschließen wir, Rast zu machen und suchen uns ein windgeschütztes Plätzchen für ein kleines Lagerfeuer. Bei heißem Kaffee genießen wir die Ruhe und lassen die Blicke durch die menschenleere Landschaft streifen. Es ist bereits halb vier, die Sonne geht langsam unter und wir müssen uns auf den Rückweg machen. Auf der Rückfahrt stürze ich nur noch einmal und meine Freunde loben mich für mein Anfängertalent (nur zwölfmal hinzufallen!) und ich weiß nicht, ob sie das ernst meinen oder ob jedes norwegische Kind durch eine persönliche Langlaufhölle geht.
Eine kuschlig warme Hütte empfängt uns, wir genießen norwegischen Lachs mit Gemüse und lassen die Gemütlichkeit wieder einziehen.
Nachdem ich die Schönheit der Ruhe und der Natur hier oben kennengelernt habe, begreife ich die Vernarrtheit der Norweger in ihre Hyttetur, fehlender Heizung und warmer Dusche zum Trotz. Lange Gespräche, keine Ablenkung von außerhalb (nicht einmal das Handy hatte Empfang) und entspannte Stunden vorm flackernden Feuer sind Balsam für die Seele – eine Entschleunigung der besonderen Art. Ich wünschte, wir könnten noch länger hier oben bleiben, zwei, drei, acht Wochen zum Beispiel. Doch am nächsten Tag ruft die Heimfahrt. Nach einem ausgedehnten Frühstück fahren wir den Berg wieder hinunter, ich drehe mich noch mal um und freue mich schon jetzt auf meine nächste Hyttetur, dann vielleicht im Sommer, zum Baden im See, Pilze sammeln und Wandern.
Wahrhaft magisch.