von Martina Sander
Samuel ist tot, er ist mit dem Auto gegen einen Baum gefahren. War es ein Unfall, war es Selbstmord oder Mord? Ein Journalist recherchiert und befragt Freunde, Verwandte, sehr nahe Angehörige. Wer war also Samuel? Die Rekonstruktion seiner Person erfolgt über das Gespräch mit den Menschen, die ihn kannten, und wie aus Splittern eines Kaleidoskops setzt sich ein Samuel nach und nach aus Erinnerungen, Anekdoten, subjektiven Wahrheiten oder offenen Lügen zusammen. Das schafft interessante Einblicke in die menschliche Psyche, der Lebenden und des Toten. Der beste Freund von Vandad, Liebhaber von Laide und liebender Enkel; introvertierter Grenzgänger und einer, der sein Erlebniskonto immerzu auffüllen muss? Mit jeder Seite des Buches werden mehr und mehr Details zusammengetragen, die Antwort auf alle Fragen bleibt aber letztendlich aus.
Jonas Hassen Khemiri, Jungstar der schwedischen Literaturszene, selbst Sohn einer schwedischen Mutter und eines tunesischen Vaters, hat einen fiktiv-dokumentarischen Roman geschrieben, über eine entwurzelte (Rand-)Gesellschaft in Stockholm. Migranten und Asylsuchende im gegenwärtigen Schweden treffen auf Strukturen, die sich nicht in dem Tempo mitverändern. Die Akteure haben Eltern aus verschiedenen Ländern, kommen selbst aus mannigfaltigen Kulturen und Schichten, sprechen in jedem Sinne verschiedene Sprachen. Das fehlende Zugehörigkeitsgefühl verunsichert die Menschen, ein abwesender Vater, eine ablehnende Mutter, eine Schwester, die nicht trauert, symbolisieren hier die sich verändernden familiären Bande einer Bevölkerung im Umbruch.
Elegant, wortgewaltig, auf eine ruppige Art poetisch ist „Alles, was ich nicht erinnere“ ein Genuss für Sprachästheten. Das Buch ist anfangs allerdings auch eine literarische Herausforderung. Lediglich ein Sternchen kündigt einen Perspektivwechsel an, das verlangt höchste Konzentration, führt schon mal zu Verwirrung und Frust. Aber nach und nach fügen sich die Textfetzchen, Gesprächsprotokolle zu einem Flickenteppich aus Worten und komplexe Charaktere entstehen, mit ihren Schicksalen, Hintergründen und Geschichten, und der Schleier hebt sich.
Wer auch den Dramatiker Khemiri kennenlernen will, hat wieder im Februar die Gelegenheit: Die Schaubühne zeigt ≈ [ungefähr gleich].
Erhältlich in eurer Buchhandlung vor Ort.
Info:
“Alles, was ich nicht erinnere” von Jonas Hassen Khemiri
Aus dem Schwedischen von Susanne Dahmann
Verlag: DVA Belletristik, 336 Seiten