Die Geschichte beginnt mit dem Ende. Eine junge Tieräztin wird zu den Vorfällen befragt. Sie kann sich nur lückenhaft erinnern, was, laut Anwalt, auf ein traumatisches Stressleiden zurückzuführen ist. Die Szenerie wechselt, wir befinden uns in Tromsø, die Tierärztin bereitet sich auf ihre bevorstehende Reise mit dem Robbenfangschiff M/S Kvalfjord vor, auf dem sie, im Auftrag der norwegischen Fischereiaufsicht, die Expedition überwachen soll. Wieder springt die Szene, diesmal auf das Schiff. Die Tierärztin sitzt verängstigt in ihrer Koje, während jemand von draußen gegen die Tür tritt. Er ruft: “Dir passiert hier doch nichts, weißt du. Hure. Dir passiert nichts, worum du nicht selbst gebeten hast. Was du dir nicht selbst gewünscht hast. Das weißt du. Du bittest doch seit dem Moment darum, als du an Bord gekommen bist.”
In dem kurzen Roman “Ins Westeis” von Tor Even Svanes wechselt Chonologie und Szenerie im Einklang mit den Erinnerungen der Hauptperson. Dies führt zu einer Spannung und Atmosphäre, die es mir unmöglich gemacht hat, das Buch wieder zu vergessen. Ich fühlte mich der Hauptperson verbunden, deren Schicksal zu erahnen ist, aber eben nicht mit Sicherheit. Man bangt zwischen dem Drang, unbedingt weiterlesen zu wollen, um sicherzugehen, dass der Tierärztin nichts passiert ist, und dem unwohligen Gefühl es doch eigentlich nicht wissen zu wollen. Man findet sich am nächsten Tag bei der Arbeit sitzend wieder, an die Geschichte zurückdenkend und hoffend “Bitte lass ihr nichts passiert sein, bitte lass ihr nichts passiert sein.” Sogar die detailreichen und abstoßenden Beschreibungen der Robbentötung, die einen großen Teil der Geschichte einnehmen, erscheinen neben der Angst um die Tierärztin nebensächlich und irrelevant, was gerade für mich als Vegetarierin und Tierfreundin besonders erstaunlich ist.
Der Autor Tor Even Svanes hat mit “Ins Westeis” einen Roman geschaffen, der für mich mit Abstand einer der besten ist, die ich seit langen lesen durfte. Er ist definitiv keine leichte oder gar erquickende Lektüre, aber so fesselnd, dass mich das Buch gedanklich noch lange begleiten wird.
“Ins Westeis” kann übrigens portofrei bei Pankebuch bestellt werden!
Info
Tor Even Svanes
“Ins Westeis”
Aus dem Norwegischen übersetzt von Gabriele Haefs und Andreas Brunsterman
Erscheinungsjahr: 2016, Osburg Verlag, 180 Seiten