von Martina Sander
“Die Vögel sangen immer noch in der Sommernacht, als ich hinaufging, Großvater in der Hand. In diesem Zustand wog er noch ein Kilo, doch das Gewicht, an dem ich zu tragen hatte, wog schwer wie ein Wackerstein. … Ich zündete die harzreichen getrockneten Kiefernwurzeln an, die ich an allen vier Ecken des Scheiterhaufens eingebaut hatte, sie brannten zischend an, die Flammen leckten an den Holzscheiten darüber, aus denen wiederum höhere Flammen loderten. Sie erreichten den Sarg: Flammbirke, die schon an dem Tag in Brand gestanden hatte, als die Bäume gefällt wurden.” (S. 132)
Ohne viel Außenkontakt lebt Edvard mit seinem Großvater Sverre in Guldbransdalen, zwei Kartoffelbauern in Gummistiefeln auf einem großen Hof. Sverre hatte im Zweiten Weltkrieg auf Seiten der Deutschen an der Ostfront gekämpft und ist im Dorf nicht wohlgelitten, immer wieder muss Edvard die geschmierten Hakenkreuze von der Autotür wischen. Als Sverre plötzlich stirbt, erfährt Edvard, dass bei der Bestattungsfirma schon seit Jahren ein wundervoller handgeschreinerter Sarg bereitsteht, der Absender ist unbekannt. Der Pfarrer macht Andeutungen über die Fähigkeiten des Großonkels Einar, gibt aber keine weiteren Details preis. Und bei der Durchsicht des Nachlasses tun sich Rätsel über Rätsel auf. Hat die Polizei bei dem tragischen Unfall seiner Eltern in Frankreich vielleicht ein Fremdverschulden verschleiert? Warum galt er damals für vier Tage als verschollen oder entführt? Gibt es vielleicht noch lebende Verwandte und was hat es mit dem geheimnisvollen Erbe auf sich? Edvard packt spontan zwei karierte Flanellhemden ein und begibt sich auf eine sehr abenteuerliche Tour durch Europa, in der Hoffnung, Antworten auf viele Fragen zu bekommen, und nebenbei einen geheimnisvollen Schatz zu heben.
Vorausgeschickt: Das Buch ist großartig, ein Kuriosum, ein Phänomen — obwohl die Komponenten auf den ersten Blick nicht sehr attraktiv wirken: Es geht um alleinlebende Bauern, um Holzhacken als Passion, um Autos und Waffen. Lars Myttings „Die Birken wissen‘s noch“ könnte also als ein Hohelied auf die Männlichkeit gelesen werden. Und dennoch kommt es ganz ohne den im Moment so modernen Narzissmus norwegischer männlicher Literaten aus. Das Buch ist vor allem Abenteuerroman, Liebesgeschichte, Familienalbum, Spurensuche über ein ganzes Jahrhundert und dabei auch ein bisschen Geschichtsbuch, und ist außerdem — es ist tatsächlich unglaublich — noch superspannend. Einzelne Stränge verästeln zu einem Stammbaum, Edvard sieht immer wieder den Wald vor Bäumen nicht und familiäre Wurzeln können auch ganz woanders liegen. Mytting beschreibt die Maserung eines Nussbaumholzes, einer Flammbirke so leidenschaftlich, so liebevoll und kenntnisreich, dass etwas eigentlich Alltägliches poetisch wird. Und es macht Lust, mal ein Sachbuch zu wagen: Kürzlich wurde Mytting mit dem British Book Industry Award 2016 für “Der Mann und das Holz. Vom Fällen, Hacken und Feuermachen, eine kleine Kulturgeschichte des Holzes“ ausgezeichnet.
„Die Birken wissen’s noch“ kann übrigens portofrei bei Pankebuch bestellt werden!
Info
Lars Mytting
„Die Birken wissen’s noch“
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Erscheinungsjahr: 2016, Suhrkamp / Insel, 516 Seiten