Die Schriftstellerin Astrid Lindgren ist den Meisten wohl vor allem durch ihre Kinderbücher, durch Pippi Langstrumpf, Michel aus Lönneberga, und Ronja Räubertochter bekannt. Dass die Schwedin aber auch leidenschaftlich Tagebuch und Briefe schrieb, wissen aber wohl die Wenigsten. Am Tag, als der zweite Weltkrieg begann, fing sie an ihre sogenannten “Kriegstagebücher” zu schreiben, die jetzt erstmals in deutscher Übersetzung und editiert vorliegen.
Die Bücher starten mit dem einfachen Satz: “Oh. Heute hat der Krieg begonnen.” Ernst, ironisch, ängstlich, mit unter humoristisch berichtet Lindgren in ihren Tagebüchern vom Stockholmer Alltag im neutralen Schweden, ihrer Familie, den Geschehnissen in anderen Ländern und den Ausschreitungen des Krieges.
Man erlebt die Autorin so als Zeitzeugin, die ihre Umgebung observiert, Prognosen gibt und reflektiert. Zu Beginn fürchtet sie eine russische Invasion in Skandinavien mehr als Hitler, deren Ausmaß sie sich anhand der Berichte vom finnisch-russischen Krieg und der Besetzung Ostpolens und des nahe gelegenen Baltikums ausmalt. „Ja, Gott bewahre uns vor den Russen.“, schreibt sie unter anderem. Doch schnell wächst ihr Hass auf Deutschland und sie glaubt, dass mit den Deutschen „etwas nicht stimmen“ kann, weil sie „im Abstand von zwanzig Jahren und zwei Weltkriegen die ganze Menschheit gegen sich“ aufbringen. Bereits im Oktober 1939 bedauert sie: “Schade, dass niemand Hitler erschießt.” Lindgrens Kriegstagebücher sind geprägt von Schrecken, Empörung, aber vor allem von Mitgefühl — für Schwedens nächste Nachbarländer und allen anderen Besetzten. Vor allem aber zeigt sich, wie auch die schwedische Schriftstellerin Kerstin Ekman bereits im Vorwort hervorhebt, “dass selbst eine einfache Frau in Schweden mehr von den Grausamkeiten jener Jahre wissen konnte, als manch andere später weismachen wollten.”
Für eine spätere Veröffentlichung waren die Tagebücher eigentlich nicht geschrieben. Als Lindgren ihre Notizen machte, war sie noch lange keine Schriftstellerin. Sie arbeitete als Sekretärin im schwedischen Automobilclub und später in der Briefzensur des schwedischen Nachrichtendiensts und dokumentierte den Krieg nur zur eigenen Erinnerung. Detailliert beschrieb sie die Kriegsgeschehnisse, Frontverläufe, Bombenangriffe und untermalte die Berichte mit Zeitungsberichten, Karten und ihren Rationierungsmarken. Das jetzt vorliegende Buch enthält außerdem mehr als siebzig Faksimiles der Originaltagebücher und bisher unveröffentlichte Familienbilder aus den Kriegsjahren. Am erstaunlichsten ist aber doch Lindgrens sprachliche Gewandtheit, ihre eigene immer leicht ironische Sprache, die den Text sofort als den ihren kennzeichnet. Die Tagebücher folgen einer Dynamik, die einen zweifeln lassen, dass sie nicht nach einem fertigen Entwurf geschrieben sind. Es scheint kein Wunder, dass Lindgren später zu einer der erfolgreichsten Autorinnen der Welt avancierte. Ihre Kriegstagebücher sind erschütternd, erstaunlich, und — obwohl das Ende bekannt ist — absolut fesselnd!
Info:
Autor: Astrid Lindgren
Titel: Die Menschheit hat den Verstand verloren (Krigsdagböcker 1939–1945. )
Aus dem Schwedischen übersetzt von Angelika Kutsch, Gabriele Haefs
Erscheinungsjahr: 2015
Ullstein Verlag GmbH, 576 Seiten