von Martina Sander
“Ich heiße nicht Miriam”,
offenbart Frau Goldberg am Tag ihres 85. Geburtstags, als sie den Armreif annimmt, den ihre Familie hat für sie gravieren lassen. Während ihre Angehörigen noch darüber grübeln, ob Miriam Zeichen einer beginnenden Demenz aufweist, lässt die alte Dame bei einem langen Spaziergang die Gedanken fließen und gibt ihr bestgehütetes Geheimnis preis. Denn die gutaussehende und wohlhabende, vor Jahrzehnten nach Schweden geflüchtete Jüdin ist nicht die, für die ihre Enkelin sie hält: Eigentlich wurde ihre Großmutter mit dem Namen Malinka geboren und war als Romni in Auschwitz interniert. Auf dem Transport von Auschwitz nach Ravensbrück streifte sie sich einst das Kleid einer toten Jüdin über, deren Internierungsnummer der ihren zufällig ähnelt. Sie kratzt sich ihren Arm wund, bis die tätowierte Nummer genau passt und aus Malika, der Romni, wird die Jüdin Miriam. Als sie nach Kriegsende über das Rote Kreuz nach Schweden kommt, kann sie den Fehler nicht mehr korrigieren, denn eine „Zigeunerin“ wäre dort Persona non grata. Sie würde weggeschickt, wäre wieder heimatlos und auf der Flucht. Fast siebzig Jahre hat sie also ihre Wurzeln geleugnet, eine fremde Identität kultiviert, mit der ständigen Angst leben müssen, enttarnt zu werden.
Majgull Axelsson greift mit „Jag heter inte Miriam“ (Ich heiße nicht Miriam) auch einen nicht so ruhmreichen Teil schwedischer Geschichte auf. Noch bis 1954 galt ein Einreiseverbot für „tattare“, wie die Roma diskriminierend genannt wurden. In Rückblenden und auf drei Zeitebenen entschlüsselt sie ihre Figur über die gewohnt psychologische Annäherung. Axelsson ist eine Meisterin in der Gestaltung komplexer Frauenporträts. Natürlich gewähren die hilfsbereiten Schweden, voller Verständnis für die Opfer des Naziregimes, einer Jüdin jegliche Unterstützung. Das gleiche wären sie aber nicht bereit einer Zigeunerin zu leisten, die sie zutiefst verachten. Wie entstehen und wirken Vorurteile? Was ist Identität? Wie lebt ein Mensch mit der Angst als ständigem Begleiter?
Dies ist ein zutiefst berührendes Buch, in einer klaren Sprache, mit einer brandaktuellen Dimension und einer wichtigen Botschaft, nicht nur für schwedische Leser. Warum werden manche Flüchtlinge gesellschaftlich akzeptiert und andere nicht? Gibt es ein unausgesprochenes Flüchtlingsranking, eine geheime Akzeptanzhierarchie? Die Lektüre wirft – neben der genauen Analyse eines hochinteressanten Fallbeispiels – Fragen auf und führt dazu, auch den eigenen Standpunkt zur Flüchtlingsproblematik neu zu durchdenken.
„Ich heiße nicht Miriam“ kann übrigens portofrei bei Pankebuch bestellt werden!
Info
Majgull Axelsson
„Ich heiße nicht Miriam“ (Jag heter inte Miriam)
Aus dem Schwedischen von Christel Hildebrandt
List Hardcover
Erscheinungsjahr: 2015
571 Seiten