von Martina Sander
Jon versucht nicht zu blinzeln. Es gelingt ihm nicht. Die Muskeln rund um seine Augen krampfen. Er kniet auf dem Bett und schaut aus dem Fenster. Es ist ganz still. Er wartet darauf, dass Vibeke nach Hause kommt. Er versucht, die Augen offen zu halten, sie nicht zu bewegen. Er starrt auf den immergleichen Fleck vor dem Fenster. Es liegt mindestens ein Meter hoch Schnee.
Es ist der Abend vor Jons neuntem Geburtstag, auf den er große Hoffnungen setzt: Er erwartet Kuchen und eine Modelleisenbahn. Vibeke möchte, dass ihr Sohn glücklich ist und wird sicher versuchen, seine Wünsche zu erfüllen. Allerdings geht sie abends noch einmal aus und trifft einen reizvollen Mann, während Jon ebenfalls durch die dunkle verschneite Winterlandschaft stapft und Mädchen kennenlernt. Beide, Jon und Vibeke, treffen Leute, fahren durch die Nacht, erleben Ähnliches. Treffen sich nicht, rufen, hören sich nicht, verpassen sich, als hielten sie in Paralleluniversen auf und nicht in einer norwegischen Kleinstadt.
Der Karl-Rauch-Verlag selbst beschreibt die Geschichte auf dem Klappentext mit „deren Stimmung an David Lynchs Muholland Drive erinnert.“ Das lässt die Leserin/den Leser erst einmal ratlos sein. Der Umschlag zeigt hübsches Mittelblau mit Geschenkpapiercharakter, der Titel lautet „Liebe“ und das Werk sieht auf den ersten Blick so aus, als läge es in der Romantische-Komödien-Ecke. Schade. Denn das Buch, mit seinen 126 Seiten eine Prosa-Miniatur, ist zum Niederknien gut konstruiert, sprachlich brillant und dabei noch so ein gemeines Buch, dass es das Kopfkino schaudern lässt. Wenn sich auch beim Filmtitel vergriffen wurde, die Stimmung würde einen David Lynch tatsächlich inspirieren, so trist, so einsam, so surreal mutet Hanne Ørstaviks Roman an — bis zum unausweichlich tragischen Ende.
Absolut empfehlenswert!
Info:
Hanne Ørstavik — Liebe
Aus dem Norwegischen übersetzt von Irina Hron
ca. 120 Seiten
Karl Rauch Verlag