von Martina Sander
Selma Lagerlöf hat viele ihrer Werke als Entwicklungsroman oder Sinnsuche angelegt, in einer värmlandischen Szenerie, die deren Natur und Mythen aufgreift und zugleich mit der dort lebenden Gesellschaft verbindet. Dass sie Kindheit und Jugend wie einige ihrer Protagonisten verbracht hat, was sie geprägt und wie sie sich entwickelt hat, erschließt sich jetzt durch die Veröffentlichung ihrer dreiteiligen „Erinnerungen“. Diese sind nicht einfach Abdrucke irgendwelcher Tagebücher, wenn auch Teil 3 so präsentiert wird, sondern belletristische Raffinesse, Teil ihres Spätwerks und Schlüssel zu ihrem ganzen Oeuvre. In „Mårbacka“, dem ersten Teil ihrer „Erinnerungen“, widmet sie sich der frühen Dekade ihres Lebens, beschreibt ausführlich das Leben auf ihrem geliebten Gutshof Mårbacka und berichtet auch über die plötzliche Lähmung, die die kleine Selma befällt, und deren teilweise Genesung. Viel Raum nehmen allerdings die Märchen, Mythen und Legenden ein, die die Kinder auf Mårbacka mit wohligem Schauern von Großmutter oder Kindermädchen erzählt bekamen. Aufgewachsen in einer großen gutbürgerlichen Familie lässt sie die Leserin und den Leser an den Landpartien und traditionellen Festen genauso teilhaben, wie sie die dunklen Nächte mit Gespenstern auf dem Dachboden und Wölfen im Wald heraufbeschwört und ein angenehmes Gruseln erzeugt. Teil 2, „Aus meinen Kindertagen“, umfasst dann den Zeitraum vom 10. bis zum 13. Lebensjahr, führt also unmittelbar den ersten Teil weiter. Hier wechselt allerdings ihre Erzählperspektive überraschend aus der dritten Person zur personalen Ich-Erzählung, lässt also die Leser sehr direkt an ihren Erlebnissen teilhaben. Das Düstere des ersten Teils weicht hier einer fröhlicheren kindlichen Schreibweise. Im amüsanten dritten Teil, dem „Tagebuch der Selma Ottilia Lovisa Lagerlöf“, verwendet die Autorin den respektlos frechen Stil einer Pubertierenden – ihr narrativer Trick wirkt dabei so authentisch, dass viele Leser beim erstmaligen Erscheinen des Buches dieses für Lagerlöfs tatsächliche jugendliche Tagebuchaufzeichnungen hielten.
Diese Veröffentlichung aller drei autobiografischen Teile in einem Band ist also eine überzeugende Lektüre in mehrerlei Hinsicht: Man genießt das außergewöhnliche erzählerische Können der Nobelpreisträgerin, genießt eine sehr kluge, aber auch entspannte Sommerlektüre und erhält noch einen umfassenden Blick auf die schriftstellerische Brillanz und menschliche Besonderheit der Selma Lagerlöf.
„Die Erinnerungen“ kann übrigens portofrei bei Pankebuch bestellt werden!
Info
Selma Lagerlöf
„Die Erinnerungen“
Aus dem Schwedischen übersetzt von Pauline Klaiber-Gottschau
Erscheinungsjahr: 2016, Urachhaus, 620 Seiten