Swetlana Alexijewitsch: Secondhand-Zeit

Man nen­nt uns eine Zivil­i­sa­tion der Trä­nen. Aber manch­mal stelle ich mir die Frage, warum gehen wir runter in die Hölle, wenn wir aus ihr sowieso wieder nur als Sklaven her­vorkom­men?” 1

Im Okto­ber 2013 erhielt die belarus­sis­che Schrift­stel­lerin Swet­lana Alex­i­je­w­itsch den Frieden­spreis des deutschen Buch­han­dels für ihr Buch Sec­ond­hand-Zeit. Leben auf den Trüm­mern des Sozial­is­mus. In dem Buch geht es nicht direkt um den Nor­den, aber auch zu Rus­s­land gehört ein Teil des europäis­chen Nor­dens, der vom Unter­gang der Sow­je­tu­nion betrof­fen war, deshalb rezen­siere ich es an dieser Stelle.

Gle­ich vor­weg: Das Buch ist grandios. Es ist sehr span­nend es ist sehr gut geschrieben, es verge­ht kein Moment in dem man nicht gefes­selt ist. Man kann es trotz­dem nur schw­er am Stück durch­le­sen, denn das Buch ver­stört, es lässt so tiefe Ein­blicke in die Leben der Pro­tag­o­nis­ten zu, dass es teil­weise schw­er erträglich ist. Alex­i­je­w­itsch spürt in Sec­ond­hand-Zeit dem “Homo sovi­eti­cus” nach, dem Men­schen den der Kom­mu­nis­mus geformt hat. Dabei hat sie “nach Men­schen gesucht, die fest mit der Idee verwach­sen waren” und sich nicht mehr von ihr lösen kon­nten, der Staat “erset­zte ihnen alles, sog­ar das eigene Leben.”

Sie beze­ich­net sich auch selb­st als einen solchen “Homo sovi­eti­cus”. Für die meis­ten ihrer Pro­tag­o­nis­ten ist nicht nur mit dem Zer­fall der Sow­je­u­nion eine Welt zer­brochen, die ihr Leben aus der Bahn warf, die meis­ten hat­ten auch während der Sow­jet­zeit schon mehr Grausames miter­lebt als ein Men­sch ver­ar­beit­en kann. Alex­e­ji­witsch lässt uns an den Geschicht­en dieser Men­schen teil­haben. Sie hört ihnen zu und es scheint, als sähe sie ihnen direkt in ihre See­len. Viele der Pro­tag­o­nis­ten haben alles ver­loren, was ihnen etwas bedeutet hat­te, ihre Ange­höri­gen, ihre Hoff­nung, ihren Stolz. Die Autorin sprach für ihr Buch­mit Kün­stlern, ehe­ma­li­gen Sol­dat­en, Inge­nieuren, beken­nen­den Kom­mu­nis­ten, Flüchtlin­gen, ehe­ma­li­gen Gulag-Häftlin­gen, Arbeit­slosen und neuen Geschäft­sleuten. Alle haben sie gemein­sam, dass sie Zeitzeu­gen sind, für den Unter­gang der Sow­je­tu­nion. Ein­er von Alexijewitsch’s Pro­tag­o­nis­ten sagt: “Die Geschichte, das sind lebendi­ge Ideen. Nicht die Men­schen schreiben sie, son­dern die Zeit. Die men­schliche Wahrheit, das ist nur ein Nagel, an den jed­er seinen eige­nen Hut hängt…” Swet­lana Alex­i­je­w­itsch aber fragt in ihrem Buch nach diesen men­schlichen Wahrheit­en, sie fragt nach den Men­schen hin­ter der Geschichte, sieht “die Welt mit den Augen ein­er Men­schen­forscherin, nicht mit denen eines His­torik­ers.” 2

Da sind zum Beispiel der 87-Jährige Kom­mu­nist, der trotz schreck­lich­ster Lager­haft in Stal­ins Reich nie seinen Glauben an den Kom­mu­nis­mus ver­lor, die Frau, deren Tochter als Sol­datin in den Tschetsche­nienkrieg ging und dort unter mys­ter­iösen Umstän­den ums Leben kam, verzweifelt suchte die Mut­ter nach den Mördern ihrer Tochter, die Schrift­stel­lerin, die in ein­er Erd­höh­le aufgewach­sen ist und deren Schwest­er schon als Jugendliche an Tuberku­lose starb, weil sie in ein­er Mine arbeit­en musste. Die Form, die sie für das Buch nutzt, ist eine eigene lit­er­arische Gat­tung, ein “Roman in Stim­men”. Aus Inter­views formt sie die Geschicht­en ihrer Protagonisten.

Die Autorin sam­melte ihre Geschicht­en nicht nur in Rus­s­land und Belarus, son­dern reist auch nach Dages­tan, Georgien, Tad­schik­istan, nach Arme­nien und Aser­baid­schan, an die Außen­gren­zen des zer­fal­l­enen Riesen­re­ich­es, an denen nach dem Bruch eth­nis­che Kriege geführt wur­den, die die Welt schon längst vergessen hat. Es entste­ht das Bild eines Lan­des, Rus­s­lands, in dem es keine Gerechtigkeit gibt und auch keine Hoff­nung darauf, wed­er im Kom­mu­nis­mus noch im Kap­i­tal­is­mus, wenn man über­haupt von solchen For­men reden kann. So sind die Geschicht­en zum Teil schw­er auszuhal­ten, man möchte nicht, dass sie wahr sind, man möchte nicht, das es so etwas gab oder gibt. Auch in ihren früheren Büch­ern, in denen sie über Tsch­er­nobyl 3, über Sol­datin­nen im Zweit­en Weltkrieg 4 oder den rus­sis­chen Afghanistankrieg 5 schrieb, wagte sie sich in Sphären vor, die Gren­zen überschritten.

In ihrer Heimat Belarus, in die sie nach Aufen­thal­ten in Paris, Stock­holm und Berlin 2011 zurück­kehrte, sind Swet­lana Alex­i­je­w­itschs Büch­er ver­boten. Im Aus­land hat sie dage­gen schon mehrere Ausze­ich­nun­gen bekom­men: Darunter den Tuchol­sky-Preis des schwedis­chen P.E.N (poets essay­ists nov­el­ists) 1996, den Leipziger Buch­preis zur Europäis­chen Ver­ständi­gung 1998, den Nation­al Book Crit­ics Cir­cle Award 2005 und den pol­nis­chen Ryszard-Kapuś­cińs­ki-Preis 2011.

In der Sow­je­tu­nion zählte der einzelne Men­sch, das einzelne Schick­sal nichts. Swet­lana Alex­e­ji­witsch holt in Sec­ond­hand-Zeit nicht nur das Einzelschick­sal aus sein­er Anonymität, son­dern gibt ihm Raum in der Erin­nerung und der Geschichte und macht damit auch das Undenkbare denkbar und das Unsicht­bare sichtbar.

 “Die einzige Frage, die mich quält ist, warum wir aus solchem Lei­den nichts ler­nen? Warum sagen wir nicht, ich will kein Sklave mehr sein? Warum lei­den wir immer wieder? Warum bleibt dieses Lei­den eine Bürde und eine Ver­damm­nis zugle­ich?” 6

 
Info:
Titel: Secondhand-Zeit
Autorin: Swet­lana Alexijewitsch
Erschei­n­ungs­jahr: 2013, Hanser Berlin, 576 Seiten

 

Notes:

  1. ttt: Swet­lana Alex­i­je­w­itsch erhält den Frieden­spreis http://www.ardmediathek.de/das-erste/ttt-titel-thesen-temperamente/swetlana-alexijewitsch-erhaelt-den-friedenspreis?documentId=16137344
  2. Swet­lana Alex­i­je­w­itsch: Sec­ond­hand-Zeit. S.13.
  3. Tsch­er­nobyl. Eine Chronik der Zukun­ft. Auf­bau, Berlin 2006.
  4. Der Krieg hat kein weib­lich­es Gesicht. Hen­schelver­lag Kun­st und Gesellschaft, Berlin 1987.
  5. Zinkjun­gen. Afghanistan und die Fol­gen. S. Fis­ch­er Ver­lag, 1992.
  6. Aus einem Inter­view mit der Deutschen Welle zum Frieden­spreis 2013, veröf­fentlicht am 13.10.2013: https://www.youtube.com/watch?v=YPpUdz0WCNk.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.