von Martina Sander
Die Luft wurde den ganzen Tag nicht klarer, und er rief nicht an. Sie auch nicht, aber wenn sie nicht anrief, bedeutete das etwas anderes, als wenn er das nicht tat, denn er entschied, er hatte die Macht. Dass es sich so verhielt, dafür gab es keinen Beleg, und daran gab es keinen Zweifel. Wer bremst bestimmt immer. Wer weniger will, hat mehr Macht. … Das hier ist die Hölle, und das hier ist die Hölle, die existiert. Sie war dabei von innen heraus zu verbrennen.
Ester Nilsson, Dichterin und kluge Essayistin, innerlich gefestigt und in einer vernünftigen Partnerschaft liiert, wird gefragt, über den Künstler Hugo Rask einen Vortrag zu halten. Schon während der Recherche zu ihm und seiner Arbeit verfällt sie dem Mann, den sie nie vorher gesehen hat. Als sie dem Gegenstand „ihres schweren Begehrens“ begegnet, hat sie mit ihrem früheren Leben schon gebrochen, in Erwartung des neuen gemeinsamen, das zwangsläufig kommen muss. Dass Hugo bald abwechselnd mit Zurückhaltung, Gleichgültigkeit oder Passivität, selten mal mit lauem Interesse auf Esters SMS, Briefe und Mailbox-Nachrichten reagiert, kann nur Zufall sein, ist ohne Bedeutung, sie lieben sich doch. Und so wird sie konfuzianische Meisterin dreier Affen in ihrer Person (nichts sehen, nichts hören, nichts sagen). Sie übt sich in Selbsterniedrigung und im Gedemütigtwerden, immer getragen von einer Hoffnung, die es für sie gar nicht geben kann.
Der Titel „Widerrechtliche Inbesitznahme“ beschreibt kurz und treffend die ganze unglückliche Bekanntschaft. Denn beide beteiligten Personen werden gleichermaßen widerrechtlich in Besitz genommen, psychisch und physisch. Das Buch kann also durchaus einfach als ein grandioses literarisches Lehrstück über den Liebeskummer gelesen werden, als Psychogramm einer neurotischen Liebessüchtigen oder als elegantes Essay über flüchtige Großstadtbekanntschaften. Ester wünscht man mehr Souveränität, mehr Vernunft, mehr Selbstbeherrschung – ihr Verhalten macht wütend, nicht mitleidig; die Leser werden insofern zum Engagement gezwungen. Glücklicherweise steckt in dem Buch aber mehr als sein Inhalt, sonst wäre das Buch vor allem für eine „betroffene“ Leserinnenschaft relevant. Lena Anderssons Buch, für das sie den renommiertesten Literaturpreis Schwedens, den Augustpreis, verliehen bekommen hat, ist aber nicht nur sprachlich sehr elegant, sondern beinahe schon zu gelehrt. Die Autorin wirkt fast hoffärtig, so prallvoller Literaturhinweise, philosophischer Denkanstöße, dialektischer Gespräche und kluger Gedanken ist das Buch. Aber – dank Gabriele Haefs – liest sich das Buch trotzdem flüssig und leicht.
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Info:
Widerrechtliche Inbesitznahme (Egenmägtikt förfarande)
von Lena Andersson
Erscheinungsjahr: 2015
Luchterhand Literaturverlag, 224 Seiten