Gestern haben die Außenminister Estlands und Russlands, Urmas Paet und Sergei Lavrov, mehrere russisch-estnisches Grenzabkommen unterzeichnet, um die Grenzen Estlands zu Russland zu regeln. Zum einen wurde eine Vereinbarung über die Staatsgrenze zwischen Estland und Russland unterzeichnet, eine weitere über die Grenzen der Meeresgebiete von Narva und im Golf von Finnland, sowie ein Abkommen über die Bedingungen der Lage der estnischen Botschaft in Russland und der russischen Botschaft in Estland. Die Verträge treten aber erst dann in Kraft, wenn sie auch in den Parlamenten der beiden Staaten ratifiziert wurden. Wie wichtig dieser Schritt für die beiden Staaten ist, lässt sich an den estnisch-russischen Beziehungen ablesen, die schon seit der Unabhängigkeit Estlands angespannt sind.
Bereits im Jahr 2005 hatte es eine Unterzeichnung eines Grenzvertrags zwischen den beiden Ländern gegeben, allerdings kam es nicht zur Ratifizierung, denn Russland kündigte den unterzeichneten Vertrag wieder auf, weil die estnische Regierung sich nicht an die Vereinbarung gehalten habe: Das estnische Parlament verabschiedete am 20. Juni 2005 ein Gesetz über die Ratifizierung der Verträge, das für Kreml unakzeptable Definitionen enthielt. Dies betraf “vor allem die Bezugnahme auf den Friedensvertrag von Tartu aus dem Jahre 1920 und die Deklaration der Staatsversammlung Estlands vom 7. Oktober 1992 über die Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Staatsmacht“, so ein damaliger Mitarbeiter des russischen Außenministeriums gegenüber der staatlichen Nachrichtenagentur RIA Nowosti.
Um den Grenzkonflikt zu verstehen muss man einen Blick zurück in die Geschichte der beiden Länder werfen, denn in dem Konflikt ging es nicht um die Grenze an sich, sondern um die verschiedenen Auffassungen der Vergangenheit Russlands und Estlands. Diese prägen das Verhältnis zwischen den Staaten noch heute entscheidend und kulminierten an der Grenzfrage. Den Kern der Debatte stellte die offizielle russische Zurückweisung einer Okkupation der baltischen Staaten nach der Umsetzung des Hitler-Stalin-Paktes dar, denn aus russischer Sicht sind die drei baltischen Staaten der Sowjetunion 1940 freiwillig beigetreten. Wobei sich aber fast alle Länder, Historiker und Gelehrte des internationalen Rechts darüber einig sind, dass die Angliederung der drei Staaten an die Sowjetunion damals geltendes internationales Recht verletzte. In der Zeit der zweiten Okkupation, die nach dem Abzug der Deutschen 1944 erfolgte, entstand aber die Grenze zwischen Estland und Russland in ihrer heutigen Form. Estland hatte bis 1990 zur Sowjetunion gehört und ging lange von dem Grenzverlauf aus, der mit dem Frieden von Tartu von 1920 festgelegt wurde. In diesem hatte Sowjet-Russland Estlands Unabhängigkeit „auf alle Zeiten“ anerkannt, auch wurde in dem Abkommen die russisch-estnische Staatsgrenze festgelegt. In der Präambel des Grenzabkommens von 2005 stellte nun die estnische Seite fest, dass sie entgegen dem Friedensvertrag von Tartu mit der Annexion ihres Landes 1945 Territorien verloren hatte, da das Friedensabkommen von Tartu nach der Besetzung Estlands durch die Sowjetunion 1944 nicht mehr anerkannt wurde. Vielmehr hatte diese, die durch die Abkommen von 1920 verloren gegangene Gebiete, wieder an die Russische Sozialistische Sowjetrepublik angegliedert. Später gehörten sie zum Nachfolgestaat der UdSSR, der Russischen Föderation.
Zeitleiste Geschichte Estlands
[timelinr orientation=“horizontal” arrowkeys=“true” autoplay=“false” category=“Grenze Estland” order=“asc” dateformat=yy]
Ein anderes Problemfeld eröffnet sich an der Frage, ob Estland für Entschädigungszahlungen wegen Unterdrückung und Verbrechen, die in den 1940er und ‑50er Jahren von der Sowjetunion gegen seine Bürger begangen wurden, berechtigt ist. Auf die Angst vor Entschädigungsforderungen durch Estland kann auch die russische Zögerlichkeit bei der Anerkennung der Kontinuität des estnischen Staates zurückgeführt werden.
Erst im Oktober letzten Jahres wurden die Verhandlungen für ein Grenzabkommen zwischen Estland und Russland wieder aufgenommen, Estland strich die Präambel und beide Seiten fanden zu einer für sie zufriedenstellenden Formulierung des Abkommens.
So wurde in dem Vertrag, der gestern von den beiden Außenministern der Länder unterzeichnet wurde, an der Formulierung eigentlich nichts verändert, aber es wurden zwei Sätze hinzugefügt. In dem ersten Satz bestätigen beide Seiten, dass es in dem Abkommen ausschließlich um die Staatsgrenze geht. In dem zweiten bekräftigen sie, dass sie keine territorialen Ansprüche hegen, wie The Baltic Times berichtet.