Das erste Mal in der Geschichte entstand ein Verfassungsentwurf hauptsächlich im Internet. Nachdem Island durch die ungünstige Verflechtung von Wirtschaft und Politik in der Finanzkrise kurz vor dem Bankrott stand, beschritt die Regierung neue Wege um die Verfassung zu ändern und das Vertrauen der Bürger zurückzugewinnen. Nach den neuesten Parlamentswahlen ist das Projekt wohl endgültig gescheitert.
Es sei etwas populistisch es so zu sagen, aber „to give it to the people” träfe es ganz gut, sagte eine Abgeordnete des isländischen Parlament im Oktober des Jahres 2011. Sie redete über den Entstehungsprozess der neuen Verfassung in Island. Was hierzulande die Piratenpartei fordert, war in dem Prozess bereits Realität: Transparenz, Nachvollziehbarkeit, Öffentlichkeit. Die Debatten der 24 Mitglieder des Verfassungsrates wurden live übertragen. Jeder konnte per Facebook, Twitter, e‑Mail oder durch Briefe mitdiskutieren, die Vorschläge des Verfassungsrates konnten kommentiert, bewertet oder verbessert werden, es fand eine Art crowdsourcing statt. Thorvaldur Gylfason, Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Island, sagte gegenüber dem Guardian, dass dies wohl der erste Verfassungsentwurf sei, der hauptsächlich im Internet entstehe.
In der Finanzkrise 2008/2009 stand das Land kurz vor dem Bankrott. Das nach dem Global Peace Index friedlichste Land der Welt erlebte Massenproteste, die Polizei setzte das erste Mal seit 1949 Tränengas ein. Stundenlang schlugen viele Bürger vor dem Parlament auf Pfannen und Kochtöpfe um ihrem Zorn Ausdruck zu verleihen, was für die nüchternen Isländer geradezu als überschwänglicher Gefühlsausbruch zu werten ist. Sie forderten eine neue Republik und den Rücktritt der verantwortlichen Politiker, sowie von Nationalbankchef Davíð Oddsson.
Der neue Weg zur neuen Verfassung sollte auch neues Vertrauen in die Politik wecken. Die Beteiligung an der Wahl zum Verfassungsrat spiegelt allerdings wenig Vertrauen wider, grade einmal 35,95% der Isländer beteiligten sich an der Wahl der 25 Mitglieder des Rates. Zudem wurde das Ergebnis aufgrund von technischen Fehlern vom Obersten Gericht wieder aufgehoben. Die Regierung ernannte daraufhin die 25 zuvor gewählten Vertreter für den Verfassungsrat, was von vielen als Schwächung der Legitimität des Rates aufgefasst wurde. Eine Person lehnte die Wahl sogar ab, so blieben 24 übrig, die Island eine neue Verfassung schreiben sollten. Viele seiner Ideen bezog der Rat aus der im November 2010 einberufenen Nationalversammlung, hier hatten 950 zufällig ausgewählte Bürger aus dem ganzen Land über eine neue Verfassung diskutiert und Vorschläge gemacht. 3600 Kommentare wurden dem Verfassungsrat über Facebook zugetragen, ca. 360 Vorschläge unterbreiteten die Isländer auf der Webseite des Rates. So kann gerade der transparente und offene Prozess, der jedem Mitsprache und Teilhabe sicherte, als Erfolg gewertet werden.
Der Rat übergab dem Parlament am 29. Juli 2011 den Verfassungsentwurf und im Oktober 2012 kam es dann zu einer Volksabstimmung darüber, es wurde über die Artikel zu Fragen der Nutzung natürlicher Ressourcen, der nationalen Kirche, der Gewichtung von Wahlen und über die Art von Volksabstimmungen an sich abgestimmt. 65 Prozent der teilnehmenden Bürger sprachen sich für den Entwurf aus, allerdings war die Wahlbeteiligung mit etwas über 50 Prozent eher gering. Im nächsten Schritt hätte sich das Parlament auf den neuen Entwurf einigen müssen, aber eine Mehrheit setzte im isländischen Parlament durch, dass vor der Wahl Ende April nicht mehr über den Text abgestimmt wurde. Dies wäre aber nötig gewesen, um in der nächsten Legislaturperiode ein zweites, endgültiges Votum herbeizuführen.
Nach den Wahlen am 27.4.2013 ist das einzigartige Experiment wohl endgültig gescheitert: Die Wahlgewinner, die Unabhängigkeitspartei und der Fortschrittspartei, aller Vorraussicht nach auch die nächsten Regierungsparteien, lehnten das Projekt von Anfang an grundsätzlich ab.
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