von Martina Sander
Unn blickte in eine Zauberwelt aus kleinen Zinnen, Dachwölbungen, bereiften Kuppeln, weichen Bögen und verworrenem Spitzengeklöppel. Alles war Eis, und das Wasser spritzte dazwischen hervor und baute weiter. Stränge des Wasserfalls wurden vom Eis abgelenkt und schossen in neuen Betten dahin und bildeten neue Formen. Alles glänzte. Die Sonne war nicht gekommen, aber alles glänzte aus sich heraus eisblau und grün, und todkalt. Mitten in all das hinein stürzte der Wasserfall, wie in einen schwarzen Kellerschlund hinab. Das Wasser drängte in Streifen über die Felskante, wechselte die Farbe von Schwarz zu Grün, von Grün zu Gelb und Weiß — immer heller, je wilder der Wasserfall wurde. Aus dem Kellerschlund stieg ein Brüllen herauf, dort unten schlug sich das Wasser an den Felsen des Grundes zu weißem Schaum.
(Das Eisschloss, S. 50 f.)
Siss und Unn sind Klassenkameradinnen. Siss ist die extrovertierte Anführerin, Unn ist zurückhaltender, schwer zu durchschauen. Aus ihr wird Siss nicht recht schlau. Sie möchte aber zu gerne die beste Freundin der neu Zugezogenen werden, die alleine im Wald bei ihrer Tante wohnt. Als Siss endlich die Gelegenheit bekommt, einen Nachmittag bei Unn zu verbringen, möchte Unn ihr, um die Freundschaft zu besiegeln, ein schreckliches Geheimnis anvertrauen.
Zwei elfjährige Mädchen im Winter, in einem kleinen Dorf in Norwegen mit Wäldern und einem Wasserfall, der an einem Eisschloss baut. Ein Mädchen stirbt, das andere trauert. So knapp kann „Das Eis-Schloss“ zusammengefasst werden. Tarjei Vesaas’ Roman lebt vor allem von der Sprache, sie ist kraftvoll, atmosphärisch, ästhetisch, dabei zart und mitfühlend. Den Hut gezogen auch vor Hinrich Schmidt-Henkel, der die Poetik des 1963 erschienenen und wiederaufgelegten Buches sensibel und kundig ins Deutsche übertragen hat. Die Naturbeschreibungen des Autors sind beeindruckend allumfassend, machen das Ungebremste, Gewaltsame der Naturerscheinungen durch beschreibende Wortschöpfungen noch bildhaft einprägsamer. Wie sich Unn im Eisschloss verliert, von Raum zu Raum wandert, durch helle Eisfenster sieht und manches ahnt, möchte man immer und immer wieder lesen. Aber auch für die Trauer, die Entfremdung, die Unwirklichkeit, und für die Gemeinschaft findet er einfühlsame Worte voller Poesie. Das Buch ist ein literarisches Schmuckstück, zudem ist das Cover wunderschön anzusehen. Eine kleine Geschichte, mit großer Wirkung.
Zu Recht wurde Tarjei Vesaas mehrmals für den Nobelpreis nominiert, bekommen hat er den Literaturpreis des Nordischen Rates.
Info:
Tarjei Vesaas: Das Eis-Schloss
Aus dem Norwegischen von Hinrich Schmidt-Henkel
Mit einem Nachwort von Doris Lessing
Guggolz Verlag, Berlin 2019; 201 Seiten
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