von Martina Sander
Eine Wissenschaftlerin beobachtet im Winter im Norden Norwegens das Leben der Seevögel, ganz allein. Die Routine in der Station, die Forschungsarbeiten gestalten ihren Alltag und geben ihr in der Einsamkeit ein Gerüst; auch die Skype-Telefonate mit ihrem Geliebten sind feste Größen, denen sie entgegenfiebert, auch wenn dieser bei den Gesprächen immer zögerlicher wirkt. Aber ihr Eremitendasein und die Kälte fordern ihren Tribut. Die geistige Klarheit, die sie sich bei ihrem Ausstieg erhofft hat, weicht mit jedem Tag mehr den inneren Dämonen, den Schuldgefühlen, den privaten ungelösten Konflikten.
Als sie von einem schrecklichen Drama erfährt, dass sich vor Jahren in ihrer kleinen Hütte abgespielt hat, weiß sie bald nicht mehr, ob sich die seltsamen Vorkommnisse in ihrem Kopf abspielen oder ob doch eine reale Gefahr droht.
Gøril Gabrielsens lakonische Sprache zieht in den Bann und bietet trotzdem pralles Lesevergnügen, ihre Naturbeschreibungen lohnen sich schon ohne Plot. Der raffinierte Kunstgriff der Ich-Perspektive gerade hier erzielt das maximale Identitätsgefühl der Lesenden und lässt sie die zunehmende Bedrohung mitspüren. Der vermeintliche Irrsinn der Protagonistin, deren Namen wir nie erfahren, überträgt sich über deren Bewusstseinsstrom und lässt erschauern. Die Atmosphäre ist unangenehm, die Stimmung zunehmend angsterfüllt, das Setting ist Ödnis. „Die Einsamkeit der Seevögel“ ist ein eleganter Psychothriller, der allerdings keine Auflösung erfährt und den auf Eindeutigkeit bedachten Lesenden ratlos in der Finnmark stehen lässt.
Info:
Gøril Gabrielsen — Die Einsamkeit der Seevögel
Aus dem Norwegischen von Hanna Granz
Insel Verlag, 174 Seiten
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